Freiheit gehört nicht nur den Reichen by Lisa Herzog
Autor:Lisa Herzog
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406659348
Herausgeber: C.H.Beck
Freiheit und Komplexität
Über die Frage nach grundlegenden sozialen Normen hinaus hat die Sozialität des Menschen weitergehende Auswirkungen darauf, wie ein zeitgenössischer Liberalismus die Gesellschaft denken sollte. Denn diese Sozialität bedeutet, dass es nicht nur Verträge zwischen vollständig rationalen Individuen gibt, sondern auch zahlreiche andere Formen der Interaktion zwischen Menschen: Bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt, gleichförmig oder gegenläufig reagieren wir darauf, wie andere um uns herum sich verhalten. Die Lehrbuchmodelle der Ökonomie, und auch so manche politische Philosophie rechter wie linker Couleur, erwecken den Eindruck, eine liberale Gesellschaft sei eine einfache Sache: Es gibt den gesetzlichen Rahmen, und innerhalb dieses Rahmens machen die Einzelnen, was sie wollen – der Rahmen lenkt ihr Verhalten schließlich in die richtige Richtung. Derartige Modelle können als erste Annäherung an die Realität sinnvoll sein. Aber sie dürfen nicht den Blick dafür verstellen, um wie viel komplizierter die Wirklichkeit ist. Denn liberale Gesellschaften sind, noch mehr als andere Gesellschaften, unglaublich komplexe Gebilde – zumindest dann, wenn sie aus Menschen aus Fleisch und Blut bestehen und nicht aus «Homines oeconomici». Komplexität meint, dass man das Gesamtverhalten eines Systems nicht klar vorhersagen kann, auch wenn man über die einzelnen Teile Bescheid weiß, zum Beispiel, weil es zwischen dem Verhalten der Teile unabsehbare Wechselwirkungen gibt oder weil eine winzige Änderung im Verhalten eines einzelnen Elements viele andere Elemente auf einen neuen Pfad führen kann. Je mehr Freiheiten die Menschen haben, umso mehr können sie innerhalb des gesetzlichen Rahmens machen, was sie wollen. In vormodernen, hierarchisch geprägten Gesellschaften war ein viel größerer Teil des Verhaltens durch Traditionen und Rollenmuster geprägt. Es gab oft keine Möglichkeit, neue, innovative Lösungen für Probleme zu finden. Außerdem musste ein großer Teil des Einkommens für überlebenswichtige Güter ausgegeben werden; auch dies machte das Verhalten der Menschen vorhersehbarer. Moderne, liberale Gesellschaften dagegen haben viel höhere Freiheitsgrade. Die Individuen können selbst entscheiden, ob sie zum Beispiel alte Gewohnheiten aufgeben und sich neuen Trends anpassen oder ob sie einer Retrowelle folgen und gerade zum Alten zurückkehren wollen. Sie können unerwartet mit Widerstand gegen Neuerung reagieren, während sie andere Veränderungen sang- und klanglos akzeptieren. Und weil Menschen soziale Wesen sind, wirken sie dabei auf das Verhalten anderer ein und reagieren selbst wiederum darauf. Nachahmungseffekte können zum Beispiel erdrutschartige Veränderungen in der Nachfrage nach einem bestimmten Gut auslösen, die es bei «Homines oeconomici», die nur auf ihren je individuellen Nutzen bedacht sind, nicht geben würde.
Diese Komplexität ist nicht verdammenswert. Sie beruht auf einer zentralen Eigenschaft liberaler Gesellschaften: auf der Freiheit der Einzelnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sodass in den verschiedensten Lebensbereichen Eigeninitiative und Kreativität freigesetzt werden. Aber diese Komplexität muss man berücksichtigen, wenn es darum geht, wie in liberalen Gesellschaften Entscheidungen gefällt und Veränderungen angestoßen werden können.
In der Geschichte des Liberalismus war immer wieder eine Metapher maßgeblich: die Vorstellung, dass das gesetzliche Regelwerk das Verhalten der Menschen zwar frei lässt, aber in die richtigen Bahnen lenkt. Die Vorstellung hat etwas vom Bauen von Kanälen und Staudämmen: Die Energien, die nun einmal vorhanden sind und sich nicht unterdrücken lassen, sollen so gelenkt werden, dass sie möglichst wenig Schaden anrichten und vielleicht sogar Nutzen stiften.
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