Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution by Wensierski Peter

Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution by Wensierski Peter

Autor:Wensierski, Peter [Wensierski, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-DVA Sachb./Belle.
veröffentlicht: 2017-01-30T14:43:55+00:00


Der Sprung auf die Mauer

Januar 1989

Der Deutschlandfunk, der viele Zuhörer in der DDR hatte, berichtete am Wochenende besonders ausführlich. In den Nachrichten wurde das Flugblatt zitiert und – wie in der Tagesschau – Ort und Zeit der Demonstration genannt: 16 Uhr auf dem Marktplatz.

Am Morgen des 15. Januars wusste wohl jeder Bewohner in Leipzig Bescheid, auch die, die kein Flugblatt in ihrem Briefkasten vorgefunden hatten. Und selbst die, die aus Angst vor oder aus Treue zum Staat das Flugblatt verbrannt oder es als »Hetzschrift« oder »Postwurfsendung mit feindlichem Inhalt« in ihren Betrieben oder bei der Volkspolizei abgeliefert hatten.

Fred brauchte weder Radio noch Fernsehen, er hatte eigene Informationsquellen. Den ganzen Freitagabend war er in der Moritzbastei. In die Studentenkneipe wurde man eigentlich nur mit einem Ausweis der Karl-Marx-Universität eingelassen. Aber Fred fand immer jemanden, der ihn mit hineinschleuste. Er hatte dort Andreas getroffen und sich alles erzählen lassen. Andreas wusste mehr als andere, denn er wohnte im selben Haus wie Micha.

Es war spät geworden, eine Band spielte noch, und beide hatten ziemlich gebechert. Fred hatte Sorgen. Er betrieb seit dem Herbst eine illegale Bar in seinem Wohnhaus und hatte eine große Silvesterparty veranstaltet. Hundert Leute waren gekommen, und die Stimmung war bestens gewesen. Später, weit nach Mitternacht, gerieten jedoch einige der aus Berlin angereisten Punks außer Kontrolle. Sie tranken unheimlich viel, rempelten herum, und irgendein Idiot zündete im Übermut mit seinem Feuerzeug auch noch ein Neues Deutschland an, das sich von der Decke gelöst hatte und halb herunterhing. Da Fred Ärger mit dem Hauswart vermeiden wollte, hatte er Decken und Wände der Bar mit Schaumstoff gedämmt, und weil er fand, dass es blöd aussah, hatte er die Decke und Teile der Wände mit dem SED-Zentralorgan, dem FDJ-Blatt Junge Welt und dem Gesetzblatt der DDR tapeziert. Nun loderte nicht nur das entflammte Zentralorgan, auch der Schaumstoff fing rasant Feuer und entwickelte sofort starken Rauch. Die Feuerwehr zu einem verbotenen Treff zu rufen war ausgeschlossen.

Den Brand konnten sie Wassereimer für Wassereimer schließlich selbst löschen. Glücklicherweise war niemand verletzt worden, doch seine schöne Nachtbar hatte erheblichen Schaden erlitten, und ihre Zukunft war ungewiss. Der Traum ist vorbei, dachte Fred.

Er war deshalb auch nicht bester Laune, als er sich am Montag vor der Aktion mit Micha, Gesine, Uwe und den anderen aus den Basisgruppen in der Nikolaikirche getroffen hatte. Sie standen wie immer am Seitenausgang. Wir planen da was, flüsterte ihm Gesine während des Friedensgebetes zu. Fred ahnte, worum es gehen sollte. Flugblätter? Eine Demo? Wie viele mitmachen würden, fragte er. Ein Dutzend? Ob sie irre wären? Bei so vielen sei mit Sicherheit einer dabei, der sie verrate. Das sei gefährlich. Sie kämen alle in den Knast!

»Wenn ihr abgeht«, sicherte er dann doch Gesine zu, »dann wird es Leute geben, die das Ding durchziehen.«

Inzwischen war Sonntag, eine Woche vergangen, seine Freunde waren tatsächlich größtenteils im Knast. Sollte er sich überhaupt auf den Markt wagen?

Er hatte bei einem Freund übernachtet, das Radio war aufgedreht. Als der Nachrichtensprecher des Westsenders auf die Demonstration um 16 Uhr am Markt hinwies, gab es für Fred kein Halten mehr.



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