Die Toten von Santa Lucia by Barbara Krohn
Autor:Barbara Krohn
Die sprache: de
Format: mobi
ISBN: 9783864740251
veröffentlicht: 2011-12-01T23:00:00+00:00
20
Nächte, deren Träume sich vor dem Erwachen verflüchtigten, waren wie eine Reise durch eine Grauzone, in der jeder Schritt, jedes Bild, jede noch so phantastische Vision sofort vom Nebel des Vergessens verschluckt wurden. Man durchquerte ein Stückchen Lebenszeit, aber bewusstlos, gewissenlos, ohne verstrickte und verknotete Gedanken und Gefühle, die sonst beim Aufwachen oft noch im Nacken oder in der Magengrube saÃen und sich nicht immer unter der Dusche abschütteln lieÃen. Träume konnten hartnäckige Begleiter des Alltags sein, sie hockten in den Gliedern, lieÃen einen nicht los. Wie erholsam war dagegen eine vermeintlich traumlose Nacht. Eine Spanne Einsamkeit, eine Spanne Gedankenfreiheit, die Erinnerung reingewaschen wie der Himmel nach einem Gewitter.
In Neapel hatte es nicht gewittert, aber Sonja hatte beim Aufwachen trotzdem kurzfristig Schwierigkeiten mit der Erinnerung. Es dauerte ein paar Atemzüge, bis sie wieder wusste, wo sie war. Allerdings hatte sie keinen blassen Schimmer, wie sie nachts in die Pension und in ihr Bett zurückgefunden hatte. Der letzte Erinnerungsstreifen zeigte die Bar, in der sie mit Gennaro Gentilini etliche Grappa getrunken hatte â nach dem Pochen in ihrem Kopf zu urteilen, mehr als nur etliche, eher ein ganzes Dutzend. Alles andere war im Dunkel der Nacht zurückgeblieben.
Das Pochen in ihrem Kopf war lästig. Wenn sie noch ein wenig weiterschlief, gab es vielleicht die Chance, den Tag ohne Schädelbrummen zu beginnen. Sie schloss die Augen, bereit, wieder in den Halbschlaf zu sinken. Aber drauÃen lärmte der Alltag. Eine Autosirene heulte los, nervtötend. Das Pochen wurde lauter. Sie schrak hoch. Das Pochen wummerte gar nicht in ihrem Kopf, sondern dahinter. Mit einem Schlag war sie hellwach. Jemand klopfte energisch an ihre Zimmertür.
»Signora!!!«
Die Stimme der Zimmervermieterin. Porcamiseria, konnte diese Nervensäge sie nicht in Ruhe schlafen lassen?
»Sono le dieci e venti!«
Zwanzig nach zehn? Ja und?
»Bisogna lasciare la stanza alle dieci!«
Wie? Was? Ach so. Sie hatte ja am Tag zuvor angekündigt, dass sie nur noch eine Nacht bleiben würde.
Das Pochen wurde vehementer. Als stünde drauÃen die Polizei und wollte sich notfalls gewaltsam Zutritt verschaffen.
»Signoooorrrraaa! Câè un uomo che aspetta!«
Ein Mann? Mit einem Satz war Sonja aus dem Bett. Sogleich meldete sich ihr Schädelbrummen so heftig, als wäre sie mit dem Kopf gegen eine unsichtbare Decke gestoÃen.
»Ich komme!«, rief sie. »Vengo subito! Einen Augenblick! Chi è?«
»Un uomo«, schrie Signora Russo erneut gegen die verschlossene Tür. »Questo Gentilini. Ma chi è chillo?!« Sie schien in Fahrt zu sein, denn sie zeterte weiter, es sei nach zehn und überhaupt, Männerbesuch in der Pension und diese ständigen Anrufe, basta! â sie sei kein Auskunftsbüro und kein lebender Anrufbeantworter und kein Unterschlupf für zweifelhafte Objekte. Das sagte sie wortwörtlich: Zweifelhafte Objekte. Als wäre damit der Zenit ihrer Empörung überschritten, wurde ihr Schimpfen danach leiser â offenbar war sie auf dem Rückweg in den vorderen Teil der Pension, um darüber zu wachen, dass das zweifelhafte Objekt nicht womöglich etwas mitgehen lieÃ.
Sonja kramte in ihrer Kulturtasche nach Aspirin und fand schlieÃlich eine unansehnlich gewordene Kopfschmerztablette, die von einer ihrer letzten Reisen stammen musste und den Charme eines Bonbons besaÃ, den ein Junge wochenlang in der Hosentasche mit sich herumgetragen hatte.
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