Die Schatten der Globalisierung by Joseph Stiglitz

Die Schatten der Globalisierung by Joseph Stiglitz

Autor:Joseph Stiglitz [Stiglitz, Joseph]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Globalisierung, Ökonomie, Weltwirtschaft
ISBN: 9783641202774
Herausgeber: Siedler
veröffentlicht: 2016-05-03T22:00:00+00:00


KAPITEL 5

Wer hat Russland zugrunde gerichtet?

Mit dem Fall der Berliner Mauer Ende 1989 begann eine der bedeutendsten wirtschaftlichen Transformationen aller Zeiten. Es war das zweite kühne wirtschaftliche und soziale Experiment des 20. Jahrhunderts.25 Das erste war der kommunistische Systemwechsel siebzig Jahre zuvor gewesen. Im Lauf der Jahre zeigte sich immer deutlicher, dass dieses erste Experiment gescheitert war. Als Folge der Revolution von 1917 und der sowjetischen Vormachtstellung in einem großen Teil Europas nach dem Zweiten Weltkrieg verwirkten etwa acht Prozent der Weltbevölkerung, die unter dem kommunistischen Sowjetsystem lebten, sowohl politische Freiheit als auch wirtschaftlichen Wohlstand.26 Der zweite ökonomische Systemübergang in Russland sowie in Ost- und Südosteuropa ist keineswegs abgeschlossen, aber so viel steht fest: Er ist in Russland weit hinter den Versprechungen beziehungsweise Hoffnungen der Befürworter der Marktwirtschaft zurückgeblieben. Für die meisten Menschen, die in den Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion leben, sind die Existenzbedingungen im Kapitalismus noch schlechter, als es die altkommunistischen Kader vorhersagten. Und die Zukunftsaussichten sind düster. Die Mittelschicht wurde zerstört, ein System von Nepotismus und Mafia-Kapitalismus geschaffen, und die einzige Errungenschaft, die Errichtung einer Demokratie mit effektiven Freiheitsrechten wie etwa Pressefreiheit, steht auf überaus tönernen Füßen, wie man insbesondere daran ersieht, dass vormals unabhängige Fernsehsender nacheinander geschlossen werden. Auch wenn die Entscheidungsträger in Russland erheblichen Anteil an den Ereignissen haben, trifft die westlichen Berater, allen voran die aus den Vereinigten Staaten und des IWF, die schon bald zur Stelle waren, um das Evangelium der Marktwirtschaft zu predigen, eine Mitschuld. Zumindest unterstützten sie den Kurs der Regierenden in Russland und vielen anderen Volkswirtschaften; sie verkündeten eine neue Religion – die reine marktwirtschaftliche Lehre –, die die alte Religion – den Marxismus –, die sich als so mangelhaft erwiesen hatte, ablösen sollte.

Russland ist eine Tragödie ohne Ende. Nur wenige sahen den unvermittelten Zerfall der Sowjetunion vorher, und nur wenige rechneten mit dem plötzlichen Rücktritt Jelzins. Putin war – und bleibt – eine rätselhafte Figur. Einige glauben, die Oligarchie und damit die schlimmsten Auswüchse der Jelzin-Jahre seien nun endgültig vorüber; andere sind der Meinung, dass lediglich einige der Oligarchen in Ungnade fielen. Einige sehen in der Produktionssteigerung seit der Krise von 1998 den Beginn einer Renaissance, die zur Wiedererstehung einer Mittelschicht führen werde; andere meinen, es werde Jahre dauern, um auch nur die Verluste der letzten zehn Jahre aufzuholen. So viel ist klar: Die Einkommen sind heute deutlich niedriger als vor zehn Jahren, und die Armut ist viel größer. Die Pessimisten sehen eine Atommacht, die von politischer und sozialer Instabilität bedroht ist. Die Optimisten (!) sehen ein halb autoritäres Regime, das die innere Ordnung gewährleistet, aber um den Preis des Verlusts demokratischer Freiheiten.

Russland erlebte nach 1998 aufgrund des hohen Erdölpreises und der Abwertung, gegen die sich der IWF so lange gesperrt hatte, einen Wachstumsschub. Doch als der Erdölpreis zurückging und die Früchte der Abwertung eingefahren waren, ging auch das Wachstum zurück. Heute sind die wirtschaftlichen Aussichten etwas weniger düster als zur Zeit der Krise von 1998, aber sie sind weiterhin ungewiss. Der Staat kam schon kaum über die Runden, als der Preis für Erdöl – das wichtigste Exportprodukt Russlands – hoch war.



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