Die Richter. by Wiesel Elie

Die Richter. by Wiesel Elie

Autor:Wiesel, Elie [Wiesel, Elie]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: German Language Books
ISBN: 9783404921300
Google: Z8d_HAAACAAJ
Herausgeber: Luebbe Verlagsgruppe
veröffentlicht: 1999-01-01T23:00:00+00:00


Plötzlich herrschte eine unwirkliche Stille in dem Raum, der in dämmeriges Halbdunkel getaucht war. Kirsten erinnerte sich, dass der Professor für englische Literatur an der Universität seinen Studenten eine Aufgabe zu folgendem Thema gegeben hatte: »Sie haben noch vierundzwanzig Stunden zu leben. Was tun Sie?« Manche brachten ihre Träume von Ruhm zum Ausdruck, andere ihre erotischen Fantasien. Einige verfassten eine Art Testament. Einer war brillant genug, einen Essay über das Lachen zu schreiben. George unternahm mehrere Versuche, war aber nicht in der Lage, irgendetwas zu schreiben. Er hatte Ideen, wusste, wie er sie ausdrücken konnte, aber sie hatten für ihn kein Gewicht. Ihm war unbegreiflich, was es für einen Menschen bedeuten konnte, alles zum letzten Mal zu tun, zu sagen und zu sehen. Wie sollte man den Tod spüren können, ohne zu sterben? Er beschloss auszuweichen: Er sprach nicht von sich selbst, sondern zitierte und kommentierte die letzten Worte bekannter Persönlichkeiten aus Geschichte, Religion und Literatur. Mose und Sokrates, Goethe und Tolstoi. Giordano Bruno, Gertrude Stein und Bergson. Er hatte keine besonders gute Note dafür erhalten.

Und jetzt?

Das Bild seines Großvaters tauchte vor seinen Augen auf. Ein wacher, aber sorgenvoller Blick, wirres, struppiges Haar, als käme er gerade aus dem afrikanischen Busch oder der Wüste Arizonas. Sein ewiges skeptisches Lächeln auf den Lippen, seine näselnde Stimme. »Verstehst du das Problem, mein Junge? Es ist unlösbar. Die Wissenschaft sollte sich dem Schutz des Lebens widmen, aber der Mensch benutzt sie als Tötungsinstrument.« Er war Professor für Kernphysik und von dem berühmten Robert Oppenheimer engagiert worden, um an der Forschungsarbeit in Los Alamos in New Mexiko mitzuwirken. Wie die meisten seiner Kollegen schleppte er ein vages Schuldgefühl mit sich herum, weil er bei der Herstellung der Atombombe mitgewirkt hatte. Dennoch bedauerte er diese Mitarbeit nicht. Wie Albert Einstein, Leo Szilard und Enrico Fermi wusste er, dass die deutschen Wissenschaftler ihnen zuvorkommen konnten. Man musste schnell und gut sein.

Daher die Notwendigkeit, den ganzen Willen, alles Können, alle Mittel von Regierung und Universitäten auszuschöpfen.

Das Überleben der freien Welt hing davon ab.

Warum dachte Kirsten in dieser Nacht an seinen Großvater?

Er verehrte ihn. Er verstand sich mit ihm besser als mit irgendwem sonst in seiner Umgebung. Sein Großvater hatte es gelernt, mit dem Zweifel zu leben, während sein Sohn, Georges Vater, nur auf Gewissheiten baute. Ersterer ließ sein heiteres Wesen erkennen, Letzterer trug von morgens bis abends und weit darüber hinaus die strenge Maske eines Predigers. »Wie Prometheus habt ihr das Geheimnis der Götter gestohlen«, sagte er aufgebracht, wenn ihn die Lust zu reden ergriff. »Sie werden sich rächen und uns bestrafen. Wenn nicht morgen, dann übermorgen.« Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Und ich hoffe, dass ich nicht mehr da bin, wenn es geschieht.« Ach, Vater, du bist nicht mehr da. Und du auch nicht mehr, Großvater. Was würdet ihr tun, wenn ihr hier wäret, an meiner Stelle? Oder mir gegenüber? Diese vierundzwanzig Stunden, die du noch zu leben hast, was würdest du mit ihnen machen, Großvater? Wie sähe dein Testament aus? George hätte sich nie getraut, seinem Vater diese Frage zu stellen.



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