Die Pest: Geschichte des Schwarzen Todes by Bergdolt Klaus
Autor:Bergdolt, Klaus
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406689178
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2016-05-12T16:00:00+00:00
Geißlerzüge und Judenverfolgungen
Zwei ebenso fatale wie folgenreiche Begleitphänomene des Schwarzen Todes unterstrichen die mentale und psychische Ausnahmesituation, in welcher sich Europa um 1348 befand: Geißlerzüge und Judenverfolgungen. Flagellantenbewegungen gab es zwar seit dem 13. Jahrhundert, doch erreichten sie zur Zeit der Pest einen dramatischen Höhepunkt. In einer Zeit, als nur die Mutigsten wagten, nicht an das Jüngste Gericht zu glauben, war der Einfluß der moralisierenden Mahner gewaltig. Es fiel, wie schon erwähnt, nicht schwer, die Katastrophen der Zeit als chiliastische Zeichen zu deuten. Von Ungarn aus durchwanderten die Geißler Teile Österreichs, Polens, der Niederlande, der Schweiz und Frankreichs. Ihr erster Auftritt nach dem Ausbruch der Pest ist im Herbst 1348 in der Steiermark verbürgt. Er war – zweifellos ein nicht unwillkommener Wink des Schicksals! – von Unwettern begleitet, welche die Wein- und Getreideernte vernichteten. Kein Wunder daß man die unheimliche Schar als Vorboten des Weltuntergangs betrachtete. Im typischen Fall bewegte sie sich an noch pestfreien Orten, um gemeinsam mit der dortigen Bevölkerung Gott um Verschonung vor der Seuche, aber auch um Aufschub des Weltendes zu bitten. Man bewegte sich rhythmisch, streckte die Arme zum Himmel, warf sich auf den Boden und schrie zu Gott. Bestimmte Sünden wurden öffentlich durch einschlägige Gesten bekannt: Ehebrecher wälzten sich auf einer Körperseite, Mörder auf dem Rücken. Blutige Striemen und eine schmerzverzogene Mimik galten als Beweise tiefster Reue. Die Selbstbestrafung galt als letztes Mittel, Gottes Ratschluß rückgängig zu machen. Heinrich von Herford notierte in seiner Weltchronik (1355): «Jede Geißel war eine Art Stock, von welchem drei Stränge mit großen Knoten herabhingen. Mitten durch die Knoten liefen von beiden Seiten sich kreuzende, eiserne, nadelscharfe Stacheln, die in der Länge eines Weizenkorns oder etwas mehr aus den Knoten ragten. Mit solchen Geißeln schlugen sie sich auf den entblößten Oberkörper, so daß dieser blau verfärbt und entstellt anschwoll und das Blut nach unten lief und die benachbarten Wände der Kirche, worin sie sich geißelten, bespritzte. Zuweilen trieben sie sich die eisernen Stacheln so tief ins Fleisch, daß man sie erst nach wiederholten Versuchen herausziehen konnte.» Es gab «Bußfahrten», an denen, glaubt man zeitgenössischen Quellen, bis zu 10.000 Geißler teilnahmen. Bezeichnend ist, daß die Geißlerzüge stets vor Ausbruch oder nach Abflauen der Pest zunahmen, als das Gefühl der Krisenzeit übermächtig war und der Mensch Zeit fand, über seine Lage zu reflektieren.
Das Erlebnis der Pest führte immer wieder zur Frage nach ihrer Ursache. Da die Medizin versagte, lag es für viele nahe, daß finstere Mächte oder böse Menschen ihre Hand im Spiel hatten. Der «böse Blick» wurde schon erwähnt. Im 14. Jahrhundert waren es die Juden, im 16. und 17. Jahrhundert angebliche Giftmischer, welche der absichtlichen Seuchenverbreitung beschuldigt wurden. Den Juden warf man Brunnenvergiftung vor, d.h. die künstliche Produktion schädlicher Miasmen, die nach schulmedizinischer Auffassung bevorzugt über Zisternen und Brunnen entstanden, deren Wasser «faulig» schien. Die Beschuldigung einer bestimmten sozialen Gruppe hatte offensichtlich eine Art Katharsis-Funktion. Entsprechende Traditionen bestanden seit Jahrhunderten. Was die Juden betraf, war die Erinnerung an hochmittelalterliche Pogrome, etwa am Rhein im 13. Jahrhundert, durchaus lebendig. In England war im 13.
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