Die Patin by Gertrud Höhler

Die Patin by Gertrud Höhler

Autor:Gertrud Höhler
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
ISBN: 9783280037249
Herausgeber: Orell Füssli Verlag
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Regieren: Ein Entsorgungsunternehmen für alle Bindungen

Merkels Geheimnis als Aussteigerin aus bewährten Bindungen ist lesbar in rollenden Köpfen, aber auch in wohldosierten Proben zur Relativierung von Parlamentarismus und Recht, aus dem Wettbewerbskern der freien Marktwirtschaft, aus der Völkergemeinschaft der NATO, lauter kleine Tests, die wie isolierte Zufallsereignisse erscheinen und schnell im Strom der Ereignisse in Krisen-Europa unter die Oberfläche geschwemmt werden – um nach gewisser Zeit erneut nach oben zu kommen und ein ungewisses Déjà-vu auszulösen, das kaum einer zu Ende denkt und bewertet. Die Aussteigerin ist es gewöhnt, in großen Zeiträumen zu denken. Sie weiß, dass die Dosierung für Gewöhnungsprozesse entscheidend ist. Ab und zu ein Gesetzesbruch, «alternativlos» natürlich oder so unauffällig, dass man ihn nicht kommentieren muss; ab und zu eine Relativierung moralischer Spielregeln und ethischer Gebote: Die Wirkung ist zuverlässig – Gewöhnung, Entdramatisierung der allgemeinen Einstellung zu Ethik und Moral. Die Einladung zum Ausstieg aus den Fesseln eines Wertekodex, der alle verbindet, wird in feiner Dosierung als Entlastungsangebot erlebt. Merkels Geheimnis ist der Ausstieg aus Bindungen von Fall zu Fall. Commitment, Loyalitäten werden nicht offiziell außer Kraft gesetzt, aber disponibel gemacht: das Leben in der Lockerung aller Bindungen wird ein Aussteigerprogramm mit Lizenz von oben. Die Führung selbst stellt das Regelset zur Disposition.

Auch das Scheitern der schwarz-gelben Koalition findet eher im Auge des traditionellen Betrachters statt als aus der Perspektive der Kanzlerin. Sie beginnt den Ausstieg aus dieser Konstellation am Tag des Wahlsiegs. Die Hast, mit der ein Koalitionsvertrag zusammengeschraubt und präsentiert wurde, lässt ja nicht auf besondere Sorgfalt schließen, wie man sie von «Wunschpartnern» erwartet. Die Kanzlerin brauchte diesen Vertrag am wenigsten; ihr Plan für die Agonie des kleinen Stimmenlieferanten stand schon vor der Wahl. Nicht einmal ein «Moratorium» wurde der FDP verordnet; sie lief arglos in ihre tiefste Krise – an der Seite jener politischen Kraft, zu der sie in den Augen von Millionen Wählern am besten passte. Deutschland erwartete, endlich noch einmal, eine Politik aus einem Guss. Was die Deutschen bekamen, war eine Politik aus einer Hand. Die Aussteigerin trat den Beweis an, dass auch die klassischen Konstellationen der untergehenden Bundesrepublik kein Erfolgsmodell mehr sein können, solange sie an der Macht ist.138

Die FDP nimmt das Niegesehene nicht wahr: eine Koalitionschefin, die auch das gemeinsame Thema Steuersenkungen, ein Markenzeichen der FDP, ihrerseits nun gar nicht mehr verfolgen will. Die Schweigerin Angela Merkel nimmt das Thema aber keineswegs von der Tagesordnung; sie hindert niemanden an der Vermutung, dass vielleicht doch der Tag kommen wird, an dem sie plötzlich zu den Steuersenkern zurückkehrt. Je nachdem wie die Sterne stehen im politischen Geschäft, bleibt das möglich. Generell gilt die Formel «Alles ist möglich», und sie gilt für jedes Thema, das die Kanzlerin anfasst. Ihre Regierungspartner aus der kleinen gelben Nische werden das erst gegen Ende der gemeinsamen Regierungszeit begreifen – zu spät, um noch gleichwertig mitzuspielen.

Wenn der Ausstieg aus Verbindlichkeiten zum Führungsprogramm wird, müssten eigentlich die Liberalen ebenso heftig protestieren wie CDU, SPD und Grüne. Die Liberalen wagen in den ersten schwarz-gelben Regierungsjahren kaum einen Zwischenruf, weil sie dazugehören wollen.



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