Die Listensammlerin by Gorelik Lena
Autor:Gorelik, Lena [Gorelik, Lena]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 978-3-644-11521-7
Herausgeber: Rowohlt Digitalbuch
veröffentlicht: 2013-07-30T16:00:00+00:00
Für die Liste «Wann man sich spätestens Sorgen machen muss»:
⢠wenn das Telefon nachts um 2.54 Uhr klingelt
Eins, zwei, drei, vier. Die Kombination des Altenheims war so einfach, dass sogar Anna sie schon kannte. Eins, zwei, drei, vier. Sowohl von innen als auch von auÃen dieselbe, ein weiÃes Zahlenschloss wie bei einem Hotelsafe, aber schicker, mit Digitalanzeige und einer Schlüsseltaste, die rot und grün leuchten konnte. Meine GroÃmutter ist ein Back- und ein Zahlengenie gewesen (gewesen, obwohl sie noch lebt), Backen und Zahlen waren ihre Leidenschaft, und meine gesamte Schulzeit über bedauerte sie, dass ich ihre Zuneigung zu den Zahlen nicht geerbt hatte (eher backte ich noch mit ihr). Langweilte ich mich als Kind bei langen Autofahrten, bat sie mich, aus den Ziffern einer Telefonnummer eine Hundert zu errechnen, indem ich zum Beispiel die erste Ziffer mit der zweiten multiplizierte und die nächsten zwei addierte, um dann die dritte abzuziehen und so weiter. Meine GroÃmutter behauptete, wenn man lange genug am Ball bleibe, lieà sich aus fast allen Telefonnummern eine Hundert errechnen. Ich war schon mit der Aufgabe überfordert und von der Vorstellung, endlose Rechnungen auszuführen, noch mehr gelangweilt als von der Autofahrt. Was für mich meine Listen sind, waren für GroÃmutter die Zahlen, und jedes Mal, wenn ich die Eins-zwei-drei-vier-Schlüsselkombination eingab, erst unten am Tor, dann hinterm Aufzug, dann an der richtigen Wohnungseinheit, fühlte ich mich im Namen meiner GroÃmutter persönlich angegriffen. Dass man sich nicht einmal die Mühe machte, sich eine kompliziertere Zahlenkombinationen auszudenken, um sie und die anderen Alten vom Weglaufen abzuhalten (GroÃmutter hatte es geschafft, und auch wenn ich mir schwer vorstellen konnte, wie, so gefiel mir die Vorstellung, dass sie die Zahlenkombination erraten oder sich gemerkt hatte). Eins, zwei, drei, vier, ich musste es laut wiederholt haben, weil der Taxifahrer plötzlich zu mir blickte, gleichzeitig die Lautstärke herunterdrehte und «Wie bitte?» fragte. Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten, schüttelte nur den Kopf.
Dafür, dass meine GroÃmutter weggelaufen war wie ein Welpe, den man von der Leine gelassen hatte, war es ziemlich ruhig im Heim. Nachts war ich noch nie an diesem Ort gewesen und erschrak ein wenig, weil das Gelände â das Tor stand immer noch sperrangelweit offen, wahrscheinlich würde morgen ein Mechaniker kommen â verlassen wirkte. Im Krankenhaus war auch nachts immer etwas los gewesen, jemand eilte über die Gänge, jemand kam, jemand ging, und wenn ich nicht schlafen konnte, dann lief ich durch verschiedene Stockwerke und hielt nach all diesen Menschen Ausschau, nicht, um mit ihnen zu sprechen, sondern um jemanden zu sehen. Oder um Anna und Flox nicht zu sehen, die friedlich schliefen, Anna bei Flox im Arm, auf dem Schaukelstuhl, den die nette, sehr groÃe, sehr füllige polnische Kinderkrankenschwester uns von irgendwoher angeschleppt hatte, einhändig. Sie schliefen friedlich, Vater und Tochter, wenn da das Schnaufen nicht gewesen wäre, nicht das Schnaufen, nicht die Schläuche, nicht das piepende Gerät, nicht dieser Ort, dessen Geruch kein Shampoo und kein Duschgel abwaschen konnte, auch nach Tagen nicht. Das Heim aber war des Nachts wie verlassen.
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