Die Kunst, sich zu verlieren by Rebecca Solnit

Die Kunst, sich zu verlieren by Rebecca Solnit

Autor:Rebecca Solnit
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Matthes & Seitz Berlin Verlag
veröffentlicht: 2020-02-15T00:00:00+00:00


Das Blau der Ferne

Blau war der Titel einer Musikkassette, die ich vor einem Dutzend Jahren zusammenstellte; manche Songs handelten von Traurigkeit, manche vom Himmel, und manche von beidem. So eine Kassette habe ich mir immer wieder einmal zusammengemixt, hauptsächlich für lange Autofahrten, und dabei habe ich immer versucht zu definieren, was mich an der Musik, die ich auswählte, bewegte. Eine frühere Auswahl hieß Geografiestunden, größtenteils tragisch, und auch da hatte ich versucht, etwas über die Evokation bestimmter Orte und ihre emotionale Resonanz in jener Musik herauszufinden. Eine Zusammenstellung über Flüsse und das Trinken, über das innerliche und das äußerliche Ertrinken, nannte ich The Entirely Liquid Mr. North, nach dem sich zu Tode trinkenden Komponisten Abe North in F. Scott Fitzgeralds Zärtlich ist die Nacht, obwohl die Songs aus dem Süden stammten. Die meisten Songs auf Blau hatten irgendeine Beziehung zum Blues, als kehrte die Musik zurück zu ihren Ursprüngen in der Sehnsucht und dem Blau der Ferne.

Ein paar Jahre zuvor hatte ich die Country-&-Western-Musik entdeckt – nicht den modernen Kram, zumeist sentimentaler Pop mit Geigen und Genäsele, sondern die älteren Lieder, die die dunklen Tiefen emotionaler Erfahrungen ausloteten. Ich war in der liberalen Einwandererkultur der Westküste groß geworden, weit entfernt von der Welt jener Musik, und hatte gelernt, dieses Zeug als banal, kitschig und vulgär zu verachten, ohne ihm jemals wirklich Beachtung zu schenken. Als diese Musik dann eines Frühlings plötzlich über mich hereinbrach, stellte ich verblüfft fest, dass die populärsten Songs oft, genau wie die Geschichten von Edgar Allan Poe und Katherine Anne Porter, im Stil der Schauerromane des Südens, der Southern Gothics, daherkamen, verliebt in die Tragödie und die Topografie. Heute sehe ich diese Zeit als eine Epoche, in der eine schmerzbewegte Poetik des Verlusts den Äther beherrschte, und frage mich, wie sie in die echte Banalität der zeitgenössischen fröhlichen Countrymusic abrutschen konnte (obwohl es an den Rändern dieses Genres noch immer große Balladensänger gibt).

Die Songs, die mir ins Blut übergingen, ähnelten zu einigen wenigen Strophen und einem Refrain komprimierten Kurzgeschichten; immer überspannten und schichteten sie die Zeit. Die Musik war gespenstisch, handelte von fernen Erinnerungen, von den Toten und Vergangenen, oder zielte zumindest auf eine Geliebte, einen Geliebten weit außer Hörweite. So wie das Schreiben war auch diese Musik einsam, ein Selbstgespräch in jener Einsamkeit des Komponierens und Kontemplierens, in dem freien Fluss der Zeit, im Davor, im Danach, im Dazwischen, aber irgendwie nie wirklich im Jetzt einer blühenden Romanze, und vielleicht war dies auch die Zeit meiner langen Autofahrten im Sommer, als ich tausend, tausendfünfhundert Kilometer am Tag fuhr und die Bildsequenzen immer wieder abliefen, wie Filme, wie die Geschichten, die kleine Kinder zur Beruhigung hören wollen, die Bilder des Highway 40 durch Arizona und New Mexico, der Highways 80 und 50 durch Nevada und Utah, der Highways 58 und 285 durch die kalifornische Wüste, der vielen kleineren Highways und anderer Straßen, Straßen, an denen die Mesas und Diners überall gleich waren, das Licht und die Wolken und das Wetter jedoch nie.

Und das waren nicht unbedingt obskure oder alternative Sachen.



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