Der Seewolf by London Jack
Autor:London, Jack [London, Jack]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
veröffentlicht: 2015-05-10T16:00:00+00:00
22
Ich wusste sofort, worum es ging, als sie auf mich zukam. Zehn Minuten lang hatte ich beobachtet, wie sie ernsthaft mit dem Maschinisten gesprochen hatte, und jetzt zog ich sie mit einer warnenden Geste außer Hörweite des Rudergängers. Ihr Gesicht war weiß und gefasst; ihre großen Augen, die wegen ihrer Entschlossenheit noch größer wirkten, sahen mich durchdringend an. Ich war ziemlich beklommen und ängstlich, denn sie war gekommen, um Humphrey van Weydens Seele zu prüfen, und seit seiner Ankunft auf der »Ghost« hatte Humphrey van Weyden da nicht mehr viel vorzuweisen, worauf er stolz hätte sein können.
Wir gingen zum Rand des Achterdecks, wo sie sich umwandte und mir direkt ins Gesicht blickte. Ich sah mich um, weil ich sicher sein wollte, dass niemand in Hörweite war.
»Was ist?«, fragte ich behutsam; aber die Entschlossenheit in ihrem Gesicht ließ nicht nach.
»Ich kann verstehen«, begann sie, »dass die Geschichte heute Morgen im Wesentlichen ein Unfall war; aber ich habe mich bei Mister Hawkins erkundigt. Er sagt, dass an dem Tag, als wir gerettet wurden, als ich in der Kabine war, zwei Männer ertrunken sind, absichtlich ertränkt worden sind – also ermordet.«
Es lag eine Frage in ihrer Stimme, und sie sah mich so anklagend an, als wäre ich schuldig an dieser Tat oder zumindest an ihr beteiligt gewesen.
»Diese Information ist durchaus zutreffend«, erwiderte ich. »Die beiden Männer wurden ermordet.«
»Und Sie haben es zugelassen!«, rief sie.
»Ich war nicht in der Lage, es zu verhindern, sollte man besser sagen.« Meine Antwort war immer noch sehr behutsam.
»Aber Sie haben versucht, es zu verhindern?« Es lag eine Betonung auf dem »versuchen« und eine flehentliche Bitte in ihrer Stimme.
»Nein, das haben Sie nicht«, fuhr sie hastig fort, weil sie meine Antwort schon ahnte. »Aber warum nicht?«
Ich zuckte die Achseln. »Sie müssen daran denken, Miss Brewster, dass Sie eine neue Bewohnerin dieser kleinen Welt sind und dass Sie die Gesetze, die darin herrschen noch nicht verstehen. Sie bringen bestimmte edle Vorstellungen von Menschlichkeit, Männlichkeit und Benehmen und solchen Dingen mit, aber hier werden Sie feststellen, dass es sich um falsche Vorstellungen handelt. Ich habe das jedenfalls feststellen müssen«, fügte ich mit einem unwillkürlichen Seufzer hinzu.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Was würden Sie denn vorschlagen?«, fragte ich. »Dass ich ein Messer, ein Gewehr oder eine Axt nehme und diesen Mann töte?«
Sie schrak zurück. »Nein, das nicht.«
»Was soll ich dann tun? Mich selbst töten?«
»Sie denken nur in rein materialistischen Begriffen«, sagte sie. »Es gibt doch auch so etwas wie moralischen Mut, und moralischer Mut bleibt nie ohne Wirkung.«
»Ach so!« Ich lächelte. »Sie raten mir, weder ihn noch mich umzubringen, sondern mich von ihm töten zu lassen.« Ich hob die Hand, als sie mir widersprechen wollte. »Moralischer Mut ist ein ziemlich wertloser Schatz in dieser schwimmenden kleinen Welt. Leach, einer der beiden Männer, die ermordet wurden, besaß eine Menge moralischen Mut. Auch der andere Mann, Johnson. Er hat ihnen nicht nur nichts genutzt, er hat sie zerstört. Und mir würde es genauso ergehen, wenn ich das bisschen moralischen Mut zur Geltung bringe, das ich besitze.
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