Der Osten by Unknown

Der Osten by Unknown

Autor:Unknown
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-01-14T00:00:00+00:00


Ich denke, sie war schon vorher besiegelt, diese Reise. Ich musste dort hinfahren, weil das Bild einer realisierten Utopie in der Endlosigkeit der Steppe und der erstarrten Geschichte unwiderstehliche Kraft besaß. Schließlich hatte ich mein halbes Leben lang von asiatischen Horden gehört, die in unser europäisches Land eingefallen waren. Es war eine Reise in den Kern der Metapher. Irgendwo hinter dem Ural wurde es dunkel. Wir flogen über schwarzen Raum. Nichts, keine Lichter. Jeder Dämon konnte sich dort verstecken, jedes Gespenst ausschlüpfen. Wie damals aus dem marxistischen, europäischen Kuckucksei. Ich nickte ein und stellte mir vor, wie dort unten die Chinesen nach Westen wandern. Millionen von Chinesen, Million für Million, verführt vom Kapitalismus, ermuntert von der Globalisierung, den Blick auf den luziferischen Lichtschein unserer Städte geheftet, strebten sie Million für Million und leuchteten sich mit dem, was sie hatten, dort unten im Dunkel. Nichts zu machen: Wenn man so viel hat, muss man teilen. Deshalb waren sie unterwegs, Schulter an Schulter, Million für Million, klein, schlank, bereit, jede Menge von allem zu konsumieren, obwohl irgendwelcher Schrott eher nicht in Frage kam, denn davon hatten sie ja zu Hause genug. Sie gingen, weil sie mehr wollten, Luxuswaren, europäische Werte: liberté, egalité, fraternité, die jüdisch-christliche Tradition, das griechisch-römische Erbe, die Gleichberechtigung aller Geschlechter sowie das postmoderne Paradigma. Solche Dinge träumte ich an Bord des kühlen Airbus. Dort unten kroch die endlose, flimmernde chinesische Schlange. Auf dem gleichen Weg, auf dem vor Jahrhunderten Reiter trabten, auf der Suche nach Beute. Dann erwachte ich und bemerkte den dunklen Schatten des Flugzeugs, der über goldene Bergrücken glitt. Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Auch Temüdschins Krieger hatten bei ihrem Aufbruch nach Westen ihre Schatten gesehen, wenn hinter ihnen der Morgen graute.

Später, als wir nach drei Tagen Ulan Bator verlassen hatten, nach der ersten oder zweiten Übernachtung in der Steppe, machte ich mir bewusst, dass diese grasige Ebene für die Revolution eine Art gelobtes Land darstellte. An allen anderen Orten, in dem ganzen Raum, den die Roten in Brand zu setzen versuchten, war vorher schon etwas vorhanden gewesen. Städte, Häuser, Menschen, Materie der Vergangenheit. Hier dagegen dauerte seit siebenhundert Jahren unablässig die Gegenwart. Von Zeit zu Zeit stand hier oder da etwas aus Holz oder etwas Gemauertes, aber das meiste, fast alles war in Bewegung. Auf der Tausend-Tögrög-Banknote ist auf der einen Seite Temüdschin dargestellt, auf der anderen sein Wanderpalast. Auf einer riesigen vierrädrigen Plattform ist eine riesige Jurte aufgeschlagen. Gezogen wird sie von einem aus sicher dreißig Ochsen bestehenden Gespann. Hinten gehen Kamele und schleppen weitere Kostbarkeiten. Die Herrschaft zieht um. Sie muss keine materiellen Zeichen hinterlassen, weil sie eine Idee ist, die den Raum erfüllt. Von Ozean zu Ozean. Der Herrscher geht, und an der Stelle, wo sein Lager stand, wächst sofort Gras nach, und es ist wieder so, wie es vor hundert, vor tausend Jahren war. Das imponierte mir an diesem Land: die Gegenwart, die bis in die fernste Vergangenheit reichte. Das muss auch den Kommunisten imponiert haben. Es könnte ihnen vorgekommen sein, als nähmen sie an einer Art Steppen-Genesis teil.



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