Der Krieg in der antiken Welt: Reclam Taschenbuch (German Edition) by Harry Sidebottom
Autor:Harry Sidebottom [Sidebottom, Harry]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783159608280
Herausgeber: Reclam Verlag
veröffentlicht: 2015-10-25T16:00:00+00:00
Feldzüge und ihre Logistik: »Den Hunnen die Pferde nehmen«
Die Erklärungsmöglichkeiten und Fallgruben logistischer Untersuchungen zu antiken Armeen lassen sich verdeutlichen, indem man den Aufsatz »Nomadism, Horses and Huns« von R. P. Lindner als Fallstudie verwendet. Das erklärte Ziel dieser Arbeit war es, »den meisten Hunnen ihre Pferde zu nehmen« (unhorse most of the Huns). Lindner kam zu der Schlussfolgerung, die Hunnen hätten mit ihrer Besiedelung der großen ungarischen Tiefebene (um 410/420–465 n. Chr.) aufgehört Nomaden zu sein und daher nicht mehr als Reiter gekämpft. Diese Ergebnisse gründen auf zwei Argumentationssträngen, einem textlichen und einem ökologischen. Lindner wies darauf hin, dass einige zeitgenössische Quellen die Hunnen nicht direkt als Reiter bezeichneten. Andere Quellen, die das sehr wohl taten, wurden von ihm als unhistorisch abgelehnt, da sie einer älteren Beschreibung folgten (der von Ammianus Marcellinus 31,12, die um 395 n. Chr. entstand). Was die ökologische Seite betrifft, so ging Lindner davon aus, die Große ungarische Tiefebene habe Weidegründe für nur etwa 150 000 Nomadenpferde geboten. In Analogie zu den späteren Mongolen wird vermutet, jeder Hunne habe zehn Pferde benötigt, es habe daher zu dieser Zeit nur 15 000 hunnische Reiter geben können.
Einige Historiker sprachen sich en passant für oder gegen Lindner aus, aber meines Wissens hat es bis jetzt keine ausführliche akademische Auseinandersetzung mit seinen Ansichten gegeben. Einige Bemerkungen können hier jedoch Platz finden.
Mit dem Schweigen literarischer Quellen zu argumentieren ist immer suspekt. Es kann sein, dass einige Zeitgenossen die Hunnen nicht explizit als Reiter beschrieben, gerade weil jedermann darüber Bescheid wusste. Wenn man diejenigen Quellen, die die Hunnen als Reiter darstellen, als unhistorisch ablehnt, weil sie auf Ammianus aufbauen, dann deutet dies auf eine anachronistische Sichtweise hin. In der Kultur der klassischen Literatur galt es als positiv, seine Belesenheit zu zeigen. Demzufolge war es stets passend, auf frühere angesehene Autoren hinzuweisen. Um ein Beispiel zu nennen: Nachdem Thukydides eine berühmte Beschreibung der Seuche in Athen im Jahr 430 v. Chr. verfasst hatte (2,47–55), griffen spätere Autoren bei eigenen Seuchenbeschreibungen gerne auf Thukydides zurück. Dies bedeutet jedoch nicht, die von ihnen beschriebenen Seuchen wären Einbildung gewesen. Mit der Beschreibung der Hunnen bei Ammianus könnte es sich ähnlich verhalten haben. Außerdem überging Lindner einige zeitgenössische Literaturbelege, die nicht von Ammianus beeinflusst wurden und in denen die Hunnen als Reiter bezeichnet werden. Vegetius, von dem Lindner annahm, er habe in der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. geschrieben, beschreibt die Hunnen in seiner Epitoma rei militaris zweimal als vorbildliche Kavalleristen (1,20 und 3,26). Es ist auch beachtenswert, dass die im nächsten Jahrhundert als Söldner in der byzantinischen Armee des Belisarius dienenden Hunnen alle berittene Bogenschützen waren (Prokop 3,11,12).
Selbst wenn Lindners Schätzwerte bezüglich der Weidegründe in der großen ungarischen Tiefebene korrekt sind, bleiben die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen immer noch problematisch. Zuerst einmal unterschied sich die hunnische Gesellschaft zu dieser Zeit stark von ihrem früheren Zustand in den Steppen des nordwestlichen Schwarzmeerraums. Die Hunnen hatten eine autokratische Monarchie übernommen, eine soziale Schichteneinteilung, ein riesiges Reich, und da sie nach literarischen Quellen in Dörfern wohnten, waren sie in der Tat keine ›reinen‹ Nomaden mehr.
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