Das Zimmer by Helen Garner

Das Zimmer by Helen Garner

Autor:Helen Garner [Garner, Helen]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Berlin Verlag
veröffentlicht: 2016-02-20T00:00:00+00:00


ALS ICH in die Küche kam, brannte Licht, und Nicola stand am Arbeitstisch und kaute, wobei sie mit einer Hand immer wieder in eine große, pralle braune Papiertüte griff.

»Schau dir die mal an!«

In der hohlen Hand hielt sie mir milchweiße Kerne entgegen. »Das sind Aprikosenkerne. Du weißt schon – man zerschlägt die Steine der Aprikosen, um an sie ranzukommen, und tut sie in die Marmelade, damit sie geliert.«

»Also Pektin?«

»Vitamin B17. Das attackiert den Krebs, sagt Professor Theodore. Ich muss jeden Tag zwanzig Stück essen.« Sie hob die Hand zum Mund und fischte einen mit den Lippen heraus. »Probier mal.«

Ich nahm einen aus der Tüte: es mussten an die zwei Kilo darin sein. Er schmeckte merkwürdig: köstlich, aber auch wild und mit einem entfernten Nachgeschmack, wie etwas, das bei falscher Dosierung giftig sein könnte. Ich aß noch ein paar. Sie schenkte mir ein kameradschaftliches Lächeln, und so standen wir da und mümmelten.

»Wie war dein Tag?«

»Sie haben mir das Vitamin C verabreicht«, sagte sie, »und dann habe ich den ganzen Nachmittag dagelegen und darauf gewartet, dass die Kälteschauer und die Hitzewellen anfingen. Kein Mucks. Kein einziges Zittern. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot. Wie wenn man sein Auto in die Werkstatt bringt, und plötzlich läuft es wieder einwandfrei.«

Wir mussten lachen.

»Hast du wegen deiner Schmerzen nachgefragt?«

Das wischte sie auch diesmal vom Tisch. »Hör auf damit, Hel – diese Leute haben jeden Tag mit Krebs zu tun. Von Schmerzen wollen die nichts hören.«

Ich ließ ihr das durchgehen. Ich musste lernen, das durchgehen zu lassen.

»Kannst du dich an Marj aus Broken Hill erinnern?«, fragte sie fröhlich. »Die kahle Dame mit der kleinen schwarzen Toque, die du so gern mochtest? Weißt du, wie die vom Theodore Institute erfahren hat? Bei einer Séance. Deswegen ist sie diesen weiten Weg angereist. Und nächste Woche kommen sogar Leute aus Kanada! Nur für diese Behandlung!«

Sie grinste mich an und schob sich noch eine Handvoll Kerne in den Mund. Von denen, die ich schon gegessen hatte, wurde mir allmählich ein bisschen übel. Ich warf den Rest wieder in die Tüte. Unter dem Arbeitstisch fand ich ein großes Glas mit rotem Schraubverschluss und kippte die Kerne hinein. Hinter dem reinen Glas strahlten sie einen bedeutungslosen Glanz aus, wie ein Foto in einem Lifestylemagazin.

»Morgen hat die Klinik geschlossen«, sagte sie. »Wegen des Melbourne Cups. Was meinst du, sollen wir ins Kino gehen?«



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