Claras Melodie by Aurore Guitry

Claras Melodie by Aurore Guitry

Autor:Aurore Guitry [Guitry, Aurore]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau
veröffentlicht: 2014-09-05T22:00:00+00:00


26. FEBRUAR 2012

TRASTEVERE, ROM

Zehn Uhr. Dicker Schädel und Filmriss.

Ich erinnere mich noch an den Beginn des Abends und an das Konzert, danach sind da nur noch Bruchstücke, wie in einer Diashow. Vielleicht kommt der Rest wieder, wenn ich dir davon erzähle.

Ich muss mich beeilen, in zwei Stunden habe ich eine Verabredung mit Giovannas Verfolger.

Ich kam ungefähr eine halbe Stunde vor Beginn des Konzerts am Big Mama an. Obwohl ich keinen guten Orientierungssinn besitze, habe ich den Laden gefunden, ohne mich zu verlaufen. Eine bunte Menschenmenge wartete bereits auf Einlass – ich hatte mit einer überschaubaren Anzahl treuer Unterstützer von Giovanna gerechnet, ein paar Freunden und Bekannten … Die Leute drängelten sich vor dem Eingang des Big Mama, standen Schlange, stellten sich auf die Zehenspitzen, um sich zu vergewissern, dass sie drinnen noch Platz finden würden. Nachdem ich eine lange Viertelstunde auf dem Bürgersteig gewartet hatte, war die Reihe endlich an mir. Als ich den Raum betrat und die kleine Bühne hinter den Stuhlreihen sah, zögerte ich, Giovanna aufzusuchen – was ich eigentlich vorgehabt hatte. Die vielen Menschen und die Erinnerung an eine Begebenheit hielten mich schließlich davon ab.

Manche Künstler beten vor einem Auftritt, andere machen Atemübungen oder singen sich ein, wieder andere trinken oder nehmen Drogen. Und die Garderobe schützt das Geheimnis ihrer Ängste.

Mein Vater liebte es, in diesen Momenten allein zu sein und ein letztes Mal seine Partitur durchzugehen.

Ich erinnere mich noch, wie er damals einwilligte, das Orchester der Pariser Oper zu dirigieren. Nachdem er seine Karriere als Pianist beendet hatte, nahm er gelegentlich solche Angebote an. Bei seinen seltenen Auftritten als Dirigent konnte er seine Autorität an einer Vielzahl fremder Menschen ausleben, statt nur an mir.

Mich gab er so lange in die Obhut von Michel und Agnès, und sobald ich ihre Wohnung in Saint-Germainen-Laye betreten hatte, fühlte ich mich frei. Dort lernte ich auch meine erste Liebe Séverine kennen, eine hübsche Blondine, die im Nachbarhaus wohnte. Ich habe sie dir gegenüber kurz erwähnt, als du mich einmal über meine amourösen Abenteuer ausgefragt hast. Séverine hatte ein unglaubliches Lächeln, so strahlend, dass ihr ganzes Gesicht leuchtete. Unsere Romanze dauerte viereinhalb Wochen – so lang wie die Proben meines Vaters.

Am Tag der Premiere ging ich schweren Herzens und mit Tränen in den Augen zur Oper, weil ich wusste, dass mein märchenhaftes Zwischenspiel mit dem Applaus an diesem Abend enden würde. Die klagenden Laute der Instrumente beim Stimmen offenbarten meinen ganzen Schmerz, und während die Zuschauer im Saal ungeduldig auf das Erscheinen des großen Charles Mécian warteten, mühte ich mich ab, meinen Kummer hinunterzuschlucken. Der durchdringende atonale Schrei einer Oboe gab mir schließlich den Rest. Ich sprang von meinem Sitzplatz auf, stürmte, ohne nachzudenken, aus dem Saal und fragte eine Platzanweiserin nach dem Weg zur Garderobe.

»Ich bin der Sohn des Dirigenten. Ich muss ihn unbedingt sprechen, es ist wichtig.«

Die junge Frau riss die Augen auf. Mein fiebriger Blick schien sie jedoch zu überzeugen, sie führte mich hinter die Bühne, ohne weitere Fragen zu stellen. Entschlossener denn je lief ich den Korridor entlang: Ich würde von meinem Vater verlangen, dass er mich für immer bei seinen Freunden ließ.



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