Charlotte Salomon - Es ist mein ganzes Leben by Greiner Margret
Autor:Greiner, Margret [Greiner, Margret]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Knaus
veröffentlicht: 2017-02-07T10:15:10+00:00
Wie immer, wenn sie beim Malen eine Lähmung ergreift, zwingt sich Charlotte, Farben auf die Palette zu drücken. Das Bild ihres ersten Kusses ist noch nicht als optische Vorstellung vorhanden, aber die Empfindung ist präsent, und die mischt die Farben, bis die Seele einstimmt. Erst dann kann sie den Aufbau des Bildes entwerfen, teilt es in je zwei vollendete und zwei angeschnittene vertikale Rechtecke. Aus dem Innern des Cafés, in dem sie sich mit Amadeus getroffen hatte, konnte man wie durch Butzenscheiben nach draußen blicken. Ins Dunkle, in ein diffuses morastiges Nichts.
Aber es war Frühling gewesen.
Charlotte experimentiert mit umbrafarbenen Wellen, die sie mit titanweißen und lila Streifen abmischt, Wellen, die sich im oberen Quadrat teilen und lichten. Sie malt das Paar wie in einer Blüte, einer Tulpe, die sich nach oben öffnet, den Kelch wie eine Mandorla weitet. Amadeus, am markanten Hinterkopf und der Brille leicht zu erkennen, beugt sich zu dem Mädchen herab, seine ausgestreckten Hände berühren ihre Brust. Auch bei sich selbst führt Charlotte nur den Kopf aus, das Kleid hängt formlos herab, der Körper darunter nur angedeutet. Die Haltung des Kopfes spricht von Liebe. Da knistert keine Erregung, herrscht nur die Ruhe völliger Harmonie und Hingabe in einer hermetisch geschlossenen Welt, in der jenseits des Paares nichts existiert. Aber noch sind sie zwei, nicht eins geworden. Die Verbindung der Körper setzt Charlotte im unteren Quadrat in Szene. Mit seinen Händen scheint Amadeus den Kopf des Mädchens zu halten, sie verschwindet nahezu ganz hinter ihm: Nur eine minimale Andeutung von Schulter und Kopf lässt ahnen, dass der Mann das Mädchen küsst, mehr als das: sie so in sich hineinzieht, dass sie völlig mit ihm verschmilzt – als Person vergeht. (4644)
Charlotte rückt das Bild von sich ab, blinzelt, um die Wirkung zu prüfen. Und schlägt die Hand an die Stirn: So finster hat sie die Liebenden gemalt, von giftig grünen, blauen und rostbraunen Flammen umzüngelt, als wollte sie das Szenario einer Katastrophe heraufbeschwören: Dieses Paar soll in der Hölle schmoren. Sie muss die Palette reinigen und ein ganz helles Gelb und Rot mischen. So kann es mit den beiden jedenfalls nicht weitergehen.
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