Bis wir frei sind by Ebadi Shirin

Bis wir frei sind by Ebadi Shirin

Autor:Ebadi, Shirin
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2016-08-19T07:07:11+00:00


KAPITEL 13

Allein auf der Welt

Die Demonstrationen in jenen ersten Tagen nach der Wahl faszinierten die Welt, und die Bilder von einer Nation des Mittleren Ostens, die ihre Stimme für die Freiheit erhob, dominierten die internationalen Nachrichten. Ich nahm an, dass die Proteste den obersten geistlichen Führer Khamenei zum Einlenken zwingen würden, dazu, den Betrug zuzugeben und Neuwahlen abzuhalten. Mussawi hatte sich sogar einverstanden erklärt, seine Kandidatur zurückzuziehen, um Ahmadinedschad eine Rücktrittsmöglichkeit zu eröffnen. Doch als Nargess und ich in ihrer Wohnung am Fluss die Entwicklung in unserer Heimat verfolgten, wurde schnell deutlich, dass das Regime sich nicht nur weigerte, nachzugeben, sondern vorhatte, die Proteste niederzuschlagen.

In jenen angespannten Tagen Ende Juli schickte der Staat sämtliche Polizeibeamte, Sicherheitsagenten und Paramilitärs auf die Straßen. Sie schlugen ältere Damen, die friedlich protestiert hatten; sie eröffneten das Feuer auf die unbewaffneten Menschenmengen, die sich aus Jungen und Alten, aus Angehörigen der Arbeiterklasse und der Mittelschicht zusammensetzten. Auf einer Straße erschoss ein Milizionär eine junge Frau namens Neda Agha-Soltan. Einigen Demonstranten gelang es, den Milizionär, der sie getötet hatte, zu packen und ihm seinen Dienstausweis abzunehmen, der bewies, dass er für den Staat arbeitete. Ein Passant filmte den Vorfall und stellte ihn ins Netz. Die Bilder vom Mord an Neda verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, und ihr starres Gesicht wurde zum Sinnbild der Brutalität jener Zeit.

Zu diesem Zeitpunkt war allgemein bekannt, dass die Verletzten, wenn sie ins Krankenhaus kamen, oft von der Polizei in der Notaufnahme verhaftet wurden. Deswegen gingen sie nach Hause und warteten darauf, dass Ärzte, die sie kannten, zu ihnen kamen und sie versorgten.

Während dieser ganzen Zeit antworteten die Iraner nicht mit Gegengewalt. Sie wussten, dass das leichteste Anzeichen von Gewalt gegenüber dem Staat zu einer blindwütigen Reaktion des Regimes führen und eine Mord- und Hinrichtungsserie folgen würde, wie es in den Anfängen der Revolution der Fall gewesen war, als die Menschen sich gewehrt hatten.

Und so blieben sie hartnäckig auf den Straßen und skandierten: »Wir wollen keinen islamischen Staat!« und »Tod dem Diktator!«.

Als die Spannungen zunahmen und das Ausmaß des Protests gegen das Regime immer deutlicher wurde, beklagten sich viele Iraner darüber, dass die Vereinigten Staaten nicht genug unternahmen, um die Demonstranten zu unterstützen. »Warum sagt Obama nichts?«, fragten die Menschen. Sie fanden seine Reaktion schwach und enttäuschend. Einige nahmen an, dass eindringliche Worte etwas bewirken könnten; andere schienen zu glauben, dass solche Worte einen symbolischen Wert besäßen und dadurch Wirkung entfalten könnten.

Doch ich hielt Präsident Obamas vorsichtig formulierte Aussagen für genau die richtige Vorgehensweise. Was hätte er schließlich auch tun können? Bodentruppen schicken, um die Demonstranten zu schützen? Natürlich nicht. Sollte er allwöchentlich ein Statement abgeben, in dem er den obersten Führer verdammte und sich für die Opposition einsetzte? Das wäre sehr destruktiv gewesen. Es hätte die Mitglieder des Establishments dazu ermutigt, die Opposition als amerikanische Handlanger zu bezeichnen, was zu einem Zerwürfnis zwischen den Oppositionsführern und dem iranischen Volk hätte führen können. Die dezenten und doch pointierten Äußerungen des Präsidenten zeugten meiner Meinung nach von seinem feinsinnigen Verständnis der Dynamik im Iran.



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