Als Jonathan Starb by Tony Duvert

Als Jonathan Starb by Tony Duvert

Autor:Tony Duvert [Duvert, Tony]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Männerschwarm Verlag
veröffentlicht: 2015-05-03T16:00:00+00:00


Im gleichen Winter starb die alte Nachbarin. Jonathan stand ihr bei. Er hatte den Hund begraben, und er hatte gefühlt, dass die Alte ihm bald folgen würde. Es gibt einen Augenblick, in dem die Einsamkeit, jenseits aller Trauer, einen solchen Eindruck von mineralischer Härte, von Empfindungslosigkeit, von schamloser Nacktheit erweckt, dass man den Tod umgehen hört. Als die Alte krank wurde, merkte er es: Die beiden Einsiedler behielten sich im Auge, ihre Häuser standen einfach zu nahe beieinander. Als er sie zwei Tage lang nicht gesehen hatte, entschloss er sich, bei ihr anzuklopfen, und erwartete schon, sie tot aufzufinden.

Niemand antwortete. Es war nicht abgeschlossen. Er trat ein. Es brannte kein Feuer. Er fand die Frau im Bett. Das Zimmer stank entsetzlich. Die Alte hatte unter sich geschissen und gepisst; sie schien im Koma zu liegen; sie schnarchte. Ihr Gesicht war gelb und grün, in grellen Tönen. Ihr Mund stand offen, sie hatte noch ein paar Zähne.

Jonathan hatte Lust, sie da sterben zu lassen. Aus Feigheit gab er diesen Gedanken auf und lief ins Dorf hinunter. Beim Krämer konnte man telefonieren (erst in der nächsten Stadt gab es einen Arzt).

Im Laden jedoch überlegte Jonathan es sich anders. Er kaufte Schinken, Butter und Käse und ging ruhig nach Hause, ohne jemandem Bescheid gesagt zu haben.

«Ich hatte kein Recht, ihr das anzutun», sagte er sich ganz einfach.

Er hielt bei ihr Wache, mit belegten Broten und Wein. Er fühlte sich besser. Er dachte an Serge – ohne zu leiden. Warm angezogen, einen Schal um den Hals, ein schönes Glas neben sich, saß er am Kopfende in einem hohen Lehnstuhl auf pflaumenfarbenem Plüsch und hörte die Alte schnarchen. Es beruhigt, jenen beim Sterben zuzusehen, die einem nichts bedeuten: Man sieht sich selbst, und man gewöhnt sich daran.

«Ein gemütlicher Abend», murmelte Jonathan und wunderte sich, so viel Frieden zu spüren. Tatsächlich sahen die Dinge nie so aus, wie die Leute vorgeben: weder die Kinder noch der Tod.

«Natürlich, sie sind nun mal Arschlöcher, Idioten!», sagte Jonathan und lächelte bei dieser Wiederholung von Serges Worten. Es hätte dem Kind bestimmt gefallen, dabei zu sein. Es hätte vielleicht Gespräche mit der Sterbenden geführt, da es ja auch mit Kaninchen redete.

Wegen des Gestankes hatte Jonathan das Fenster ein wenig geöffnet, und übrig geblieben war nur mehr ein Duft von Kotze, Galle und leeren Därmen.

Zum Essen verließ Jonathan das Zimmer, aber nicht zum Trinken.

Er machte sich daran, einen kleinen Kohleofen anzufeuern. Als er nach Papier suchte, fand er einige große Bögen blau liniertes Briefpapier, schon gefaltet, um in die Umschläge gesteckt zu werden. Mit dem Kugelschreiber begann er zu zeichnen, was er sah. Es geschah eher aus Neugierde als aus Angst, sich nachher nicht mehr erinnern zu können, eine Neugierde nach Bildern, die er noch nie gezeichnet hatte.

Mitten in der Nacht ging er nach Hause schlafen. Er war betrunken und schlief schlecht.

Gegen Mittag wachte er mit schwerem Kopf auf. Die ersten Erinnerungen zeigten ihm die Alte. Er überwand einen kurzen Ekelanfall und fühlte sich erfrischt. Er huschte hinüber zum Nachbarhaus.

Der Geruch des Zimmers hatte sich verändert.



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