Zwei Reformationen by Oberman Heiko A

Zwei Reformationen by Oberman Heiko A

Autor:Oberman, Heiko A.
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2010-04-03T16:00:00+00:00


Das Überleben des Calvinismus wirft dieselbe Frage auf, die dem Betrachter schon beim Luthertum begegnete: Wie ist es zu erklären, dass die Reformation nicht scheiterte? Indem Luther nach dem Verhör durch Kardinal Cajetan (1518) sein »Augsburger Interim« dazu nutzte, an die Universitäten, den Kaiser und ein künftiges Konzil zu appellieren, gewann er kostbare Zeit. Calvin war dagegen keine solche Atempause vergönnt. Da die Universität Paris und der französische Königshof bereits gegen evangelische Abweichler vorgingen, sah er sich gezwungen, aus Paris zu fliehen und in Basel Zuflucht zu suchen. Noch bevor er in Genf vollständig Fuß gefasst hatte, ergriff er die Feder und verfasste 1547 das »Antidotum« gegen die Dekrete des Konzils von Trient. Vor allem musste sich Calvin jedoch mit der verbreiteten Ernüchterung auseinander setzen, die aus den erkennbaren Schwächen des deutschen Luthertums erwuchsen. In seinem Manifest De necessitate reformandae Ecclesiae (1543) führte er vier entscheidende Probleme der deutschen Situation an: theologische Zwietracht, mangelnde Verbesserung des christlichen Lebens, Lockerung des volkstümlichen religiösen Brauchtums auf Grund der Abschaffung des Fastens, der Wallfahrten und der geistlichen Übungen sowie Enteignung des Kirchenvermögens durch gierige Fürsten, die ihre eigene Taschen zu füllen beabsichtigten.2 Calvin gab ohne Zögern zu, dass der Erfolg einer wahren Reformation ein Wunder wäre, vergleichbar der Auferstehung der Toten.3 »Doch unsere Aufgabe besteht nicht darin, die Erfolgsaussichten einzuschätzen«, sondern zu beten und zu hoffen. »Wir müssen das Evangelium verkünden – mögen die Späne fallen, wo sie wollen – und uns den Folgen stellen.«4

In der Auseinandersetzung mit dem Aktivistenflügel seiner Bewegung im März 1522 hatte Luther dieselbe Ansicht geäußert, allerdings mit einer bedeutsamen Variation: »Ich habe das Papsttum angegriffen, indem ich das Wort Gottes verkündigte. Dieses Wort hat gewirkt, während ich schlief und ›mit meinem Philipp [Melanchthon] und Amsdorf‹ Wittenberger Bier trank.«5 Calvin hätte zwar nie dazu geraten, Bier zu trinken, doch er teilte Luthers Auffassung, dass der Erfolg der Reformation nicht die Frucht menschlichen Einfallsreichtums sein könne. Gleichzeitig vermochte Calvin keine Anzeichen eines großen Erwachens auf deutschem Boden zu finden: Nicht allein Luther mit seinem Philipp und seinem Amsdorf, sondern das ganze Luthertum war in den Schlaf gefallen. Zwanzig Jahre lang hatten Gesandte die deutschen protestantischen Fürsten vergeblich flehentlich darum gebeten, die verfolgten Hugenotten zu unterstützen und ihnen Soldaten und Geld zur Verfügung zu stellen. Der deutsche Protestantismus, der sich mit dem Augsburger Frieden (1555) zufrieden gab und damit beschäftigt war, im Reich das Gleichgewicht der Mächte zu bewahren, war nicht darauf vorbereitet, der kühne Verbündete zu werden, den Calvin, wie er erkannt hatte, in seinem Kampf um die Seele Europas brauchte.

Um die Dynamik der Reformation Calvins verstehen zu können, müssen wir eine Landkarte zeichnen, die mehr als nur die ursprüngliche deutsche Achse Wittenberg – Schmalkalden – Innsbruck zeigt und auch den spanischen Weg von Madrid nach Paris und Antwerpen umfasst. Die geopolitische Reichweite der Reformation Calvins lässt sich am besten erfassen, wenn man ihren Verlauf von Genf über Paris und Antwerpen zu den neu entstehenden Provinzen Zeeland und Holland verfolgt. Der französische Calvinismus, der vergeblich auf die Unterstützung eines matten



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