Von Bismarck zu Hitler Ein Rückblick by Sebastian Haffner

Von Bismarck zu Hitler  Ein Rückblick by Sebastian Haffner

Autor:Sebastian Haffner [Haffner, Sebastian]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426429792
Herausgeber: Knaur e-books
veröffentlicht: 2015-04-18T16:00:00+00:00


Weimar und Versailles

Die Nationalversammlung, die im Januar 1919 gewählt wurde, tagte in Weimar, nicht im unruhigen Berlin. Man ging nach Weimar, weil es ein stiller Ort war, weil man es militärisch gut absichern konnte – ein wenig vielleicht auch wegen der geistesgeschichtlichen Berühmtheit dieses Städtchens, an die das neue Deutschland anknüpfen wollte. Aber die Verabschiedung der Weimarer Verfassung war gar nicht die wichtigste und auch nicht die schwerste Entscheidung, welche die Weimarer Nationalversammlung zu treffen hatte. Das war vielmehr die Entscheidung für oder gegen die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages, der Deutschland im April 1919 als fertiges Vertragswerk in ultimativer Form vorgelegt wurde.

Als der Versailler Vertragsentwurf im Mai 1919 bekannt wurde, traf er die Deutschen, und zwar das Volk ebenso wie die Nationalversammlung und die Regierung, wie ein Keulenschlag: Gebietsabtretungen im Osten, Westen und Norden, die als ungeheuer empfunden wurden; fast völlige Entwaffnung, riesige Reparationslasten, keine Kolonien mehr, und im ganzen Ton des Vertrages eine Behandlung Deutschlands nicht wie eines besiegten, aber immer noch zur Staatengemeinschaft gehörenden Kriegsgegners, sondern wie eines Angeklagten, der sein Strafurteil empfing. Die erste Reaktion im Volk, in der Nationalversammlung und in der Regierung war: nicht unterschreiben.

Was wäre geschehen, wenn man nicht unterschrieben hätte? In diesem Fall, daran war damals und ist auch heute in der Rückschau kein Zweifel, hätten die Westalliierten die Feindseligkeiten wieder aufgenommen, wären in Deutschland eingerückt, hätten keinen, jedenfalls keinen erfolgreichen militärischen Widerstand gefunden und hätten Deutschland besetzt, zunächst bis zur Weser, wie die damaligen alliierten Pläne vorsahen. Unter dem Druck des militärischen Ultimatums unterzeichnete man schließlich, nach furchtbaren Kämpfen und einer Regierungsumbildung.

Denn für den Fall einer alliierten Besetzung befürchtete die deutsche Regierung und die Mehrheit der Nationalversammlung ein Auseinanderfallen des Reiches. Die Alliierten hätten, so nahm man an, im Westen mit den bestehenden süddeutschen Staaten und mit irgendwelchen im preußischen Norden neugeschaffenen Staatsgebilden Sonderverträge abgeschlossen, und damit wäre das Reich in zwei Teile zerfallen: einen vom Westen besetzten westlichen Teil, und im Osten und Nordosten das alte Preußen und Sachsen. Heute, mit den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges vor Augen, fragt man sich, ob das wirklich so furchtbar gewesen wäre.

Es wäre auf das hinausgelaufen, was schließlich als Folge des Zweiten Weltkrieges herauskam: einen deutschen Weststaat, der sich früher oder später dem Westen hätte anschließen müssen, und einen – damals noch um alle preußischen Ostprovinzen unverkürzten – deutschen Oststaat, dessen Schicksal schwer vorauszusehen war. Denn über den alliierten Einmarsch bis zur Weser hinaus zu spekulieren war und ist sehr schwer.

Konnte man überhaupt so sicher sein, daß die süddeutschen Regierungen und das, was da in Nordwestdeutschland entstände, dann ihrerseits unterschreiben würden? Hätten die Alliierten nicht vielleicht schließlich doch, wenn eine deutsche Regierung in Berlin übriggeblieben wäre, auch den Ostteil Deutschlands besetzen müssen? Und wäre das dann nicht eine sogar sehr viel günstigere Lösung gewesen als die nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich gewissermaßen ein 1945 ohne Russen und ohne Amputation der Ostprovinzen, ein gänzlich von den Westmächten besetztes Gesamtdeutschland? Und da die Alliierten schließlich doch wieder eine deutsche Regierung hätten finden müssen, wäre auch dieser Zustand wohl kaum von Dauer gewesen.



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