Totenverse (German Edition) by Ferraris Zoë

Totenverse (German Edition) by Ferraris Zoë

Autor:Ferraris, Zoë [Ferraris, Zoë]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-20T05:00:00+00:00


23

Im Vernehmungsraum saß ein sehr verloren aussehender Ra’id. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und die fettigen Haare hingen ihm über die schmutzigen Finger. Sein Hemd war zerknittert, und er hatte ein blaues Auge, das offenbar schon einige Tage alt war.

Als Osama hereinkam, nahm Ra’id rasch Haltung an.

»Was ist denn mit Ihrem Auge passiert?«, erkundigte sich Osama.

»Bin in einen Spiegel gelaufen«, antwortete Ra’id wenig überzeugend.

Osama legte eine Mappe auf den Tisch, nahm Platz und musterte Ra’id. Die Familienfotos, die sie in Leilas Zimmer gefunden hatten, erweckten den Eindruck, dass sie und Ra’id sich gut verstanden hatten. Osama sammelte sich kurz und begann die Vernehmung.

»Leila hat Frauen auch gefilmt«, setzte er an. Sofort lief Ra’id rot an. »Wissen Sie irgendwas darüber?«

Ra’id beugte sich vor und drückte die Brust gegen die Tischkante, als rechnete er damit, geschlagen zu werden. Er ließ sich lange Zeit, ehe er beschloss, Osama zu vertrauen, aber schließlich fragte er: »Woher wissen Sie von Leilas Filmerei?«

»Wir haben DVDs mit ihren Filmen.«

»Ach so.« Ra’id schluckte trocken. »Ich weiß, dass manches davon nicht unbedingt … schicklich war.«

»Wissen Sie, warum sie sich für diese Frauen interessiert hat?«, fragte Osama.

»Sie wollte wissen, wie sie sich so durchschlagen«, antwortete Ra’id. »Sie hat überwiegend Frauen interviewt, die ihren Lebensunterhalt selbst finanzierten.«

»Wie hat sie sie kennengelernt?«

»Ich weiß nicht genau. Zu einer hat sie übers Internet Kontakt aufgenommen …«

»Und die anderen?«

»Ich weiß es nicht.« Ra’id schwitzte. Osama beschloss, es auf die sanftere Tour zu versuchen. »Ich habe den Eindruck, dass Sie und Leila sich nahestanden. Dass sie Ihnen vielleicht das ein oder andere anvertraut hat.«

Der Junge nickte.

»Also müssten Sie doch am ehesten eine Vorstellung davon haben, wie sie gearbeitet hat. Und mir scheint, dass diese Arbeit für sie ein ernstes Anliegen war.« Zum ersten Mal sah Ra’id ihm in die Augen. »Hat sie auf der Straße nach solchen Frauen gesucht?«

Ra’id schüttelte unsicher den Kopf.

»Vielleicht kannte sie einen Mann, der sie mit einigen von ihnen in Kontakt gebracht hat?«

Wieder schüttelte Ra’id den Kopf, fühlte sich offensichtlich in die Enge gedrängt. »Ehrlich, ich weiß es nicht genau. Sie hat mir nicht alles erzählt. Wenn Leila sich irgendeine Idee in den Kopf gesetzt hatte, dann hat sie sich nicht mehr davon abbringen lassen. So war sie. Sie kannte keine von diesen Frauen, aber als sie erst mal beschlossen hatte, … Prostituierte zu interviewen, hat sie sich richtig dahintergeklemmt, bis sie schließlich ein Dutzend Freiwillige gefunden hatte, die bereit waren, vor laufender Kamera mit ihr zu reden. So war sie nun mal.«

»Denken Sie, Sie wollte damit Kritik an unserer Gesellschaft üben?«

Ra’id blickte nervös. »Kann sein, ein bisschen.«

»Es gibt hier vieles, was man durchaus kritisch sehen kann«, sagte Osama, »vor allem für Frauen. Mir scheint, dass Leila unbedingt öffentlich Stellung beziehen wollte.«

»Ja, irgendwie schon.« Ra’id sah noch immer nervös aus. »Sie fand es nicht richtig, wie die Frauen behandelt wurden, aber sie hatte Respekt davor, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestritten. Diese Frauen lagen ihr am Herzen, und sie wollte den Menschen vor Augen führen, dass hier manchmal schlimme Dinge passieren.



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