Tödlicher Denkzettel by Michael Allegretto

Autor:Michael Allegretto [Allegretto, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105602324
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-06-19T16:00:00+00:00

15

Ich bezahlte die Zeche und fuhr mit Betty Phipps zur Praxis zurück.

Betty Phipps schloß auf. Wir betraten den dunklen Vorraum. Betty schaltete die Neonbeleuchtung an.

»Dr. Rahsing ist damit vielleicht nicht einverstanden«, gab sie zu bedenken.

»Muß er unbedingt davon erfahren?«

Sie zögerte. »Nein.«

Ich folgte ihr in die rückwärtigen Räume. Die Praxis bestand aus einigen Untersuchungszimmern mit Waschbecken, Glasschränken und schmalen, gepolsterten Untersuchungstischen. Dahinter lag ein verhältnismäßig geräumiges Büro mit einem großen, alten Holzschreibtisch und einer Reihe von Aktenschränken. Betty zog die untere Schublade eines Aktenschranks auf, nahm einen Hängeordner heraus und legte ihn auf den Tisch.

»Das ist das Buch, in das wir alle Vorgänge eingetragen haben«, erklärte sie. »Es ist alles etwas unübersichtlich. Tätigkeitsbericht und Zahlungseingänge wurden zusammengewürfelt.«

»Fangen wir mit dem Monat Juni an«, schlug ich vor.

Ich beugte mich über Betty. Ihr Haar duftete angenehm. Sie schlug das Buch auf und blätterte darin. Schließlich deutete sie auf eine Seite.

In den einzelnen Rubriken waren Datum, Patientenname, Behandlungsart und Behandlungskosten verzeichnet. Schnittwunden und Schürfungen, Husten und Erkältungskrankheiten sowie Knochenbrüche waren offenbar das tägliche Brot der Praxis gewesen. Darüber hinaus gab es Eintragungen, die nur aus Datum, dem bezahlten Geldbetrag und dem Vermerk »anonym« bestanden. Hiervon entdeckte ich pro Woche gut ein halbes Dutzend Einträge. Die eingenommenen Summen rangierten zwischen zehn und fünfzig Dollar.

»Wissen Sie, was das hier bedeutet?« wollte ich wissen und legte meinen Finger auf den Vermerk »anonym«.

Betty Phipps sah zur Seite. »Selbstverständlich. Das sind Spenden.«

»Wollen Sie mir einen Bären aufbinden?«

»Aber das stimmt«, beharrte sie mit unschuldig weit aufgerissenen Augen. »Viele Leute spenden für gute Zwecke …«

»Betty, lassen wir das Theater, ja?«

Sie preßte die Lippen aufeinander.

»Dr. Early hat als Buchmacher gearbeitet, und die Eintragungen sind seine Gewinne, stimmt’s?«

Betty schwieg.

»Hören Sie, Betty. Es bleibt doch unter uns.«

Sie starrte auf das Buch. Schließlich nickte sie kaum merklich. »Aber er hat nichts für sich behalten«, murmelte sie. »Es ging alles an die Praxis.«

»Wie hat er die Wetten angenommen?«

»Über sein Privattelefon hier in der Praxis.«

»Stammten die Wettkunden alle aus Big Pine und Umgebung?«

»Ja. Dr. Early kannte jeden persönlich. Er versuchte, so vorsichtig wie möglich zu sein.« Betty seufzte. »Mir hat das nicht gefallen. Und ihm vermutlich auch nicht. Aber es war für einen guten Zweck.«

»Was hatte Joseph Bellano damit zu tun?«

»Er hat Dr. Early angelernt.«

»Wie ist es dazu gekommen?«

»Sie waren Freunde. Mr. Bellano hat jeden Sommer mit seiner Frau und den beiden Töchtern ein Ferienhäuschen am See gemietet. Big Pine ist eine kleine Stadt. Hier kennt jeder jeden. Mr. Bellano wußte um die schwierige Finanzlage des öffentlichen Gesundheitsdienstes, und daß die Praxis ums Überleben kämpfte. Er hat Dr. Early gezeigt, wie er mit Wettannahmen zusätzlich Geld verdienen konnte.«

»Und Dr. Early hat sich erkenntlich gezeigt, indem er Stephanie als Aushilfe einstellte?«

»Ja. Aber während des Sommers brauchten wir sowieso immer Verstärkung.«

»Ich verstehe.«

Ich sah die restlichen Eintragungen im Juni durch. Die sogenannten anonymen Spenden häuften sich. Ansonsten fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. Ich blätterte zum Juli um. Hier entdeckte ich den Eintrag: »Stephanie Bellano: 10. Juli – Routineuntersuchung, kein Honorar.«

»War das Stephanies Schwangerschaftsunterbrechung?«

Betty Phipps nickte. Mein Blick schweifte ein paar Zeilen tiefer.

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