Sündenfall: Kriminalroman (German Edition) by Kerstin Wassermann

Autor:Kerstin Wassermann [Wassermann, Kerstin]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: edition elibresca
veröffentlicht: 2017-08-22T22:00:00+00:00

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Wo war sie?

Als Tamina aufwachte, war sie vollkommen orientierungslos. Noch immer ertönte das tiefe Dröhnen eines LKW-Motors, und das sanfte Schaukeln sagte ihr, dass sie auf einer relativ gut befestigten Straße fuhren.

Doch um sie herum war alles stockdunkel, und muffige, stickige Luft umgab sie. Es roch widerlich nach Feuchtigkeit und Schmutz. Vorsichtig streckte sie die Hände aus. Sofort fühlte sie eine Begrenzung aus grob zusammengezimmerten Brettern. Sowohl nach oben als auch zu den Seiten war kaum mehr als ein Meter Platz.

Panik stieg in ihr auf, aber dann erinnerte sie sich wieder an alles. Die Erleichterung, die daraufhin durch ihren Körper strömte, ließ ihr die Knie weich werden.

Nur ein paar Kilometer, nachdem sie die Grenze nach Bulgarien unentdeckt überquert hatten, hatte der LKW-Fahrer angehalten, sie angewiesen, aus dem Ersatzreifen herauszukrabbeln, und ihr eine warme, trockene Decke gereicht. Dann hatte er eine der hinteren Klappen des Aufliegers geöffnet. Sie waren zusammen auf die Ladefläche des LKWs gestiegen. Dort stand eine Holzkiste, deren Seitenteil durch einen geheimen Verschluss geöffnet werden konnte. Sie war etwa einen Meter hoch, genauso breit und doppelt so lang.

Als Tamina die Matratze im Inneren der Kiste entdeckt hatte, war ihr klar geworden, dass dies für die nächste Zeit ihr Versteck sein würde.

Obwohl sie bei dem Gedanken, in einer sargähnlichen Kiste eingesperrt zu sein, die nur von außen zu öffnen war, ein beklemmendes Gefühl hatte, war sie bereitwillig hineingekrochen. Sie hatte sich in die Decke gekuschelt und sich wie ein Embryo zusammengerollt. Von der eisigen Kälte im Ersatzreifen und den Strapazen des Grenzübertritts war sie so erschöpft gewesen, dass sie sofort eingeschlafen war.

Doch jetzt war sie hellwach. Und sie fühlte sich unendlich allein. Sie wusste, dass sie dem Fahrer des LKWs vollkommen schutzlos ausgeliefert war. Unwillkürlich kamen ihr die Bilder des anderen Fahrers wieder in den Sinn, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Damals hatte sein Kollege ihn daran gehindert, doch jetzt gab es niemanden, der ihr zu Hilfe kommen würde, ganz egal, was passierte. Selbst wenn der Kerl im Führerhaus sie einfach verschwinden lassen sollte, würde niemand nach ihr suchen.

Sehnsüchtig dachte sie an Belal. Wenn ihr Bruder jetzt nur bei ihr wäre, dann wäre alles viel einfacher zu ertragen gewesen.

Doch er war nicht nur weit weg, sondern er ahnte wahrscheinlich auch nichts von ihrer Flucht. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass irgendjemand aus ihrer Familie ihm Bescheid gesagt hatte. Viel eher vermutete sie, dass der Kontakt inzwischen völlig abgebrochen war.

Sie fröstelte und schlang instinktiv die Arme um sich.

Wann hatte es eigentlich angefangen, dass sich dieser tiefe Riss durch ihre Familie gezogen hatte?

Mit dem Tod ihres Vaters vor einem knappen Jahr, dachte sie spontan. Doch als sie länger darüber nachgrübelte, wurde ihr klar, dass dies so nicht stimmte. Der Riss war eigentlich immer schon da gewesen, nur hatte ihr Vater es gut verstanden, ihn nicht zu tief werden zu lassen. Während er es genossen hatte, in einer freien Gesellschaft zu leben, in der jeder tun und lassen konnte, was er wollte, hatte ihre Mutter sich damit sehr schwer getan. Und

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