Spektakel: Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos (German Edition) by Rüdiger Schaper
Autor:Rüdiger Schaper [Schaper, Rüdiger]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: E-Books der Verlagsgruppe Random House GmbH
veröffentlicht: 2014-04-29T00:00:00+00:00
Altes Kind, weißer Rabe
Heiner Müller
BERLIN-MITTE, Dorotheenstraße 24, vierter Stock. Im Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität hüten junge Wissenschaftlerinnen seine Bibliothek, das Lesewerk des Heinrich-Mann-Lessing-Kleist-Büchnerpreisträgers. Besuch zur Mittagsstunde, er ist nicht zuhause. Natürlich nicht. Er ist seit bald zwanzig Jahren tot. Sie haben hier seine Totenmaske, aber die Ähnlichkeit zu dem Mann, den ich gekannt habe, ist nicht groß. Nein: nicht gekannt. Mit dem ich einige Male, wenn auch recht lang und ausführlich, gesprochen und getrunken habe in einer Theaterkantine, zuletzt nach der Premiere seines »Philoktet« am Berliner Ensemble, bei einem Glas Whisky, das er nicht mehr anrührte. Da hatte er noch sechs Wochen zu leben, dieser in sich ruhende Mann, in dem ein ganzes Jahrhundert ruhte und rumorte. Und der sich stets für irgendetwas bereit zu halten schien, den Wolfgang Wagner für den »Tristan« nach Bayreuth holte, mit dem Alexander Kluge endlose Doppelmonologe führte für seine Fernsehsendung, die nachts lief und deren Kriegs- und Kunstthemen einen um die Nachtruhe hätten bringen müssen, aber etwas bizarr Beruhigendes ausstrahlten. Ich denke mir die zarte Gestalt mit der hohen Stirn und der breiten Brille als Dichteroffizier in Ziviluniform, der Nationalpreis erster Klasse der DDR, der Europäische Theaterpreis dekorieren seine schwarze Jacke über dem schwarzen T-Shirt; wie er zusammenbricht unter der Last der Erwartung und weitermacht. Alles läuft zuletzt auf ihn zu; den letzten Präsidenten der Akademie der Künste (Ost), der die Vereinigung mit der West-Akademie über sich ergehen lässt, was manch einer als Verrat empfindet.
Verrat kann eine Überlebenstechnik sein, eine künstlerische Strategie, in der Liebe wie bei Staaten und am Theater sowieso, der Biograf Jan-Christoph Hauschild spricht vom »Spagat als Lebensform«. Ich sehe ihn vor mir, den Dulder und Beweger am Berliner Ensemble, der ein – wenn auch kaputtes – Verhältnis zu Bertolt Brecht hatte; diesen unfassbar höflichen, geduldigen Menschen, der für jeden ein Wort hatte, weil es auch Zeit spart, eine gewisse trockene Höflichkeit im Umgang mit Verehrern, jungen Dichtern, Journalisten zu pflegen; die dunkle Lichtgestalt, die Kontakte zur Staatssicherheit einräumen muss, ohne dass diese Affäre zu äußerlich sichtbaren Schäden führt; den Meister der »Medien-Maschine« (Hauschild), der nach der Wende wie der blinde Seher Tiresias nach dem Grund und dem Ausgang der jüngsten deutschen Geschichte gelöchert wird; den liebenden Vater, der 1993 erklärt: »Es ist nicht mehr so leicht, Spaß am Untergang der Welt zu haben, wenn man eine kleine Tochter hat. Aber Kunst ist immer verantwortungslos. Ich darf nicht nachdenken, was hat das für Folgen, was ich da mache? Aber manchmal erschrecke ich schon darüber.«
Fast achttausend Bücher stehen in der Humboldt-Universität im »Transitraum«, in den schlichten Regalen aus der Dichterwohnung. Kunstbände, Philosophisches, Werkausgaben, eine Auswahl an Weltliteratur, Übersetzungen seiner Stücke bis ins Japanische, zerlesene Kriminalromane … Wie seltsam: Ulrich Mühe und Martin Wuttke und zuletzt auch Margarita Broich, Müllers vertraute Schauspieler, haben später im Fernsehen Karriere als Gerichtsmediziner und »Tatort«-Kommissare gemacht. An Heiner Müller (1929–1995) denken, heißt abdriften, bei seinem Namen schaltet das Hirn in den Shuffle-Modus, Müller wirkt wie ein Erinnerungsbeschleuniger, die Bilder, Szenen kommen scheinbar unverbunden. DDR-Ausgaben und
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