Sechs Jahre - Der Abschied von meiner Schwester by Charlotte Link

Sechs Jahre - Der Abschied von meiner Schwester by Charlotte Link

Autor:Charlotte Link
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
veröffentlicht: 2014-08-31T22:00:00+00:00


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Noch vor Weihnachten bekommt Franziska die erste Chemotherapie. Es muss jetzt schnell gehen. Der Tumor, der die Schwellung am Hals verursachte, ist nur die Spitze des Eisbergs gewesen; um den ganzen Hals herum sitzen Tumore tiefer unter der Haut verteilt, außerdem etliche auf der Lunge. Das zweite Stadium ist ungünstiger als das erste; angesichts des Umstandes aber, dass die Erkrankung vier Stadien kennt, befindet sich Franziska noch immer innerhalb der besseren Hälfte. Und dann beginnt jenes Elend, das sie auch achtzehn Jahre später erleben wird: Gift und Strahlen, permanente Übelkeit, stundenlanges Übergeben. Völlige Appetitlosigkeit, Schluckbeschwerden, Bauchschmerzen, das ständige Gefühl, als ob Arme und Beine absterben würden. Wahrscheinlich weil sie jünger und robuster ist und eine bessere Prognose hat, verläuft das alles nicht ganz so dramatisch wie später bei der zweiten Erkrankung; da sie aber nicht in die Zukunft sehen und ihre Situation zu diesem Zeitpunkt nicht relativieren kann, sieht sie sich in der denkbar furchtbarsten Lage: Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt, steht am Beginn ihres Lebens und findet sich plötzlich auf einer Krebsstation wieder.

Sie kauft sich vorsorglich eine Perücke, weil man ihr sagt, dass sie alle Haare verlieren wird, was überraschenderweise dann jedoch nicht geschieht. Ihre Haare werden etwas dünner, aber man muss schon sehr genau hinschauen, um es zu bemerken. Schlimmer wiegt, was die Ärzte ihr noch vor Beginn der Chemotherapie mitteilen: Sie wird mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit niemals Kinder bekommen können. Die Milz als größtes lymphatisches Organ des Körpers muss massiv bestrahlt werden, diese Strahlung wird den ganzen Unterleib derart in Mitleidenschaft ziehen, dass am Ende Unfruchtbarkeit steht. Franziska muss sogar mit ihrer Unterschrift bestätigen, auf diesen Sachverhalt ausdrücklich hingewiesen worden zu sein. Sie empfindet dies als den schlimmsten Schicksalsschlag in der ganzen Geschichte. Sie hat immer von einer eigenen Familie mit Kindern geträumt, und innerhalb weniger Minuten, in einem Arztzimmer im Krankenhaus, muss sie sich von diesem Lebenstraum verabschieden. Sie hat jedoch keine Wahl. Chemotherapie und Bestrahlung sind in ihrem Fall der absolut alternativlose Weg.

Die Eindrücke aus den folgenden acht Monaten: Es ist alles nicht schön, aber schon ziemlich bald sehen zumindest die ärztlichen Prognosen gut aus. Franziska reagiert lehrbuchgerecht auf die Therapien, die Tumore schmelzen wie Butter unter der Sonne.

Unsere Mutter kommt nach München, zusammen mit dem riesigen Hund unserer Eltern, um den sich mein Vater, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht pensioniert ist, nicht kümmern kann. Wir wohnen zu dritt mit Hund und zwei Katzen in der winzigen Wohnung, was anstrengend, aber oft auch lustig ist.

Wenn Franziska ihre Chemo bekommt, sitzt unsere Mutter die halbe Nacht lang an ihrem Bett in der Klinik und hält ihr eine Schale vor das Gesicht; Franziska übergibt sich Stunde um Stunde, bis zur völligen Erschöpfung. Ein Bett weiter liegt Tina, eine Zwanzigjährige mit Leukämie, die viel weint, weil ihre Prognose sehr ungünstig ist. Die beiden jungen Frauen bekommen ihre Chemotherapien immer gleichzeitig, sodass dann auch Tinas Mutter Dienst mit der Spuckschale hat. Ein beklemmendes, angsterregendes Szenario, weit weg von der Welt, wie Franziska und auch wir anderen sie bislang kannten.

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