Schneekind by Nowak Silke
Autor:Nowak, Silke [Nowak, Silke - Schneekind]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-12-11T05:00:00+00:00
6. Kapitel: 26. Dezember
Über Nacht hatte es geschneit, eine weiße, kalte Decke hatte sich über alles gelegt, über Schloss Albstein, den Garten und mein Herz. In dicken Stiefeln bahnte ich mir einen Weg über den Hof, ich nickte Karl zu, der vor dem Haupthaus Schnee schippte.
Ich öffnete die Tür zum Pferdestall, drinnen war es kaum wärmer als draußen, meine Augen mussten sich zuerst an das Halbdunkel gewöhnen. Eine breite Stallgasse führte nach hinten, auf jeder Seite erkannte ich drei Boxen, die meisten davon standen leer.
„Sylvia?“, rief ich. „Bist du hier?“
Die Gitterstäbe der Boxen waren dunkelgrün gestrichen, die goldenen Knäufe gaben dem Stall etwas Nostalgisches. Zögernd ging ich weiter. Über einer verlassenen Box hing ein Schild: Condé stand in geschwungener Handschrift darauf.
Vor der letzten Box blieb ich stehen. Die Tür stand halb offen. Sylvia striegelte ein dunkles, schönes Tier, ohne aufzublicken. Eine Weile schaute ich still ihren gleichförmigen Bewegungen zu. Dann fragte ich: „Wie heißt sie? Es ist doch eine Stute, oder?“
Sylvia nickte. „Das ist Pünktchen.“
Sie hielt inne und deutete auf die benachbarte Box: „Und das ist Anton. Pünktchen und Anton haben dieselbe Mutter.“
Der Atem der Pferde ging regelmäßig. Anton beobachtete uns aus großen, schwarzen Augen, die wie blankpolierte Murmeln glänzten. Seine Ohren waren gespitzt.
„Und Condé?“
„Condé war das berühmte Leibreitpferd Friedrichs des Großen. Papa hat seinen Wallach nach ihm benannt. Er ist letzten Sommer gestorben.“
„Es tut mir wirklich leid, was deinem Vater passiert ist“, sagte ich.
Sylvia sah mich an. Auch Pünktchen drehte ihren Kopf und musterte mich.
„Das habe ich auf Papas Schreibtisch gefunden“, sagte sie, griff in ihren Anorak und reichte mir den Zettel.
Wie einer sündigt, so wird er gestraft, stand darauf.
„Du musst das Engler geben“, sagte ich.
„Ja, ich weiß“, sagte sie.
„Ich habe heute Nacht davon geträumt“, fügte sie emotionslos hinzu. „Ich bekomme die Bilder nicht aus meinem Kopf.“
Sylvia trug eine dicke Wollmütze, ihr Gesicht war rührend schön. Sie fuhr fort, Pünktchen zu striegeln, und sprach: „Ich mache zwei bis drei Operationen am Tag. Ich löse den Menschen die Haut vom Schädel, bevor ich ihr Gesicht straffziehe, ich sauge ihnen Fett ab, vor allem vom Bauch und den Oberschenkeln, ich zerschneide Brüste und setzte sie neu zusammen.“ Sie streichelte zärtlich über Pünktchens Nüstern.
„Was ich sagen will, ich bin nicht zimperlich“, lächelte Sylvia und ich wusste nicht, ob Trauer oder Stolz in ihrem Lächeln lag. „Aber mein Herz rast, wenn ich an Papa denke. Vielleicht habe ich das Ganze ja nur geträumt? Jeden Moment rechne ich damit, dass er den Stall betritt und meinen Namen ruft.“
„Das ist ganz normal“, versuchte ich, sie zu beruhigen.
Sylvia schüttelte den Kopf. Sie biss sich auf die Unterlippe. Beide Pferde hoben aufmerksam den Kopf. Ich hielt den Atem an. Für einen Moment dachte ich, sie wollte mir den Mord gestehen.
„Als ich das Messer an seine Kehle gesetzt habe“, flüsterte sie, „da dachte ich, er sei bereits ohnmächtig. Doch Papa hat nochmal die Augen geöffnet und mich angesehen.“
Ich erschauderte.
„Es war ein liebevoller Blick“, sagte Sylvia. Dann schüttelte sie den Kopf: „Ich werde wohl auch schon langsam verrückt“, fügte sie hinzu.
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