Richter Di 3 by Gulik

Richter Di 3 by Gulik

Autor:Gulik
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-02-04T05:00:00+00:00


Fünfzehntes Kapitel

Der Richter besucht einen Herrn aus Kanton; unerwartet kommen ihm zwei junge Damen ins Haus.

Tags darauf, nach der Nachmittagssitzung, zog Richter Di ein blaues Alltagskleid an und setzte eine kleine schwarze Mütze auf. Dann begab er sich in seiner Sänfte und nur von zwei Konstablern begleitet zu Lins Haus.

Als sie vor dem breiten Tor anlangten, hob Richter Di den Vorhang seiner Sänfte und bemerkte, wie etwa ein Dutzend Arbeiter links die Ruinen abräumten. Tao Gan beaufsichtigte sie. Er saß so auf einem Haufen von Ziegeln, daß er das Guckloch des Tores im Auge behielt und machte einen außerordentlich vergnügten Eindruck.

Kaum hatte ein Konstabler geklopft, da tat sich schon das Flügeltor von Lins Haus auf. Richter Dis Sänfte wurde in den Haupthof getragen. Der Richter stieg aus und bemerkte einen großen mageren Mann von imponierendem Aussehen, der unten an den in die Empfangshalle führenden Stufen auf ihn wartete.

Außer einem untersetzten, breitschultrigen Mann, den Richter Di für den Hausbesorger hielt, war sonst kein Diener zu sehen.

Der große Mann verbeugte sich tief. Er sprach leise und tonlos:

«Diese Person ist Kaufmann Lin, mit Vornamen Fan. Euer Exzellenz erweisen meiner elenden Hütte mit Ihrem Besuch eine Ehre.»

Sie gingen die Stufen hinauf und gelangten in eine geräumige, einfach, aber elegant möblierte Halle. Sie nahmen auf Stühlen aus geschnitztem Ebenholz Platz, der Hausbesorger servierte Tee und kantonesische Süßigkeiten.

Es wurden die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht. Lin Fan sprach fließend Nordchinesisch, jedoch mit merklichem kantonesischem Akzent. Während sie plauderten, benutzte Richter Di die Gelegenheit, seinen Gastgeber unauffällig zu mustern.

Lin Fan schien etwa fünfzig Jahre alt zu sein. Sein Gesicht war lang und mager, mit dünnem Schnurr- und einem grauen Kinnbart. Besonders fielen Richter Di Lin Fans Augen auf, sie blickten merkwürdig starr und schienen allen Bewegungen seines Kopfes zu folgen. Der Richter überlegte, daß, von diesen Augen abgesehen, man kaum geglaubt haben würde, daß dieser würdige höfliche Herr für mindestens ein Dutzend übler Verbrechen verantwortlich war.

Lin Fan trug ein dunkles Kleid von äußerster Einfachheit, eine schwarze Damastjacke, wie Kantonesen sie lieben, und auf dem Kopf eine formlose Mütze aus schwarzer Seide.

«Mein Besuch», begann Richter Di, «hat einen durchaus privaten und nichtamtlichen Charakter. Ich möchte mit Ihnen nur völlig zwanglos über eine gewisse Angelegenheit beraten.»

Lin Fan machte eine tiefe Verbeugung und sagte mit leiser, monotoner Stimme:

«Diese Person ist ein unwissender kleiner Kaufmann, aber in dieser Eigenschaft stehe ich Eurer Exzellenz restlos zur Verfügung.»

«Vor einigen Tagen», fuhr Richter Di fort, «erschien vor Gericht eine alte kantonesische Dame mit Namen Liang und erzählte eine lange unzusammenhängende Geschichte über alle Arten von Verbrechen, die angeblich Sie gegen sie begangen hätten. Ich konnte nicht ganz verstehen, um was es sich eigentlich handelte. Später teilte mir einer meiner Assistenten mit, die Dame sei geistesgestört. Sie ließ mir eine Reihe von Dokumenten da, die zu lesen ich nicht für notwendig gehalten habe, da sie ohnehin nur die vage Auslassung ihres gestörten Geistes enthalten werden.

Unglücklicherweise ist es gesetzlich nicht angängig, den Fall abzuweisen, ohne daß wenigstens ein Verhör erfolgt ist. So habe ich mich denn entschlossen, Ihnen



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