Richter Di 09 by Gulik
Autor:Gulik
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-02-02T05:00:00+00:00
10
Als der Richter die Wirtsstube betrat, stand der Korporal am Schanktisch und unterhielt sich mit einem alten, in Lumpen gekleideten Mann. Nelkenblüte saß mit gekreuzten Beinen in der Nähe auf einem Stuhl und schnitt sich die Fußnägel.
»Kommt her, Bruder«, rief der Korporal. »Ich habe gute Nachrichten für Euch. Hört, was der Mann hier zu sagen hat!«
Aus seinen roten Triefaugen warf der Alte einen bitterbösen Blick auf den Richter. Er hatte ein hageres, verwittertes Gesicht, dessen Runzeln sich wie in die Haut eines Holzapfels gruben. Indem er sich den struppigen, schmierigen Bart kraulte, begann er mit weinerlicher Stimme: »Meinen festen Standort habe ich an der Ecke der zweiten Straße vom Westtor. Im vierten Gebäude befindet sich ein nichtöffentliches Bordell; aber von Klasse, sage ich Euch. Dort fließen mir gute, regelmäßige Einnahmen zu.«
»Das ist ein feines Haus«, pflichtete Nelkenblüte bei. »Als ich meine Glückssträhne hatte, wurde ich ein- oder zweimal dorthin mitgenommen …«
Der Bettler drehte sich um und blickte sie triefäugig an: »Ja, ich sah Euch!« bestätigte er. »Sagt Eurem Kunden nächstes Mal lieber, er solle mir ruhig etwas mehr als nur zwei Kupferlinge geben! Manchmal bekomme ich sogar fünf, wenn so ein Herr mit vergnügter Miene herauskommt!«
»Zur Sache!« fuhr ihn der Korporal an.
»Na gut; das Weibsbild mit den Ohrringen, die ihr mir zeigtet, kam zweimal hin. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, da sie einen Schleier trug, aber die Ohrringe guckten hervor. Als sie mit ihrem Jüngling herauskam, sah sie mich an und sprach zu ihm: ›Gib dem armen alten Mann zehn Kupferlinge‹. Was er auch tat.«
»Ihr braucht Euch nicht zu wundern«, sagte der Korporal zu Richter Di. »Diese Bettler verdienen gut, versteht Ihr? Versucht es nur selbst einmal!«
Der Richter brummte etwas Unverständliches in seinen Bart. Das war eine völlig unerwartete Wendung. Es erschien ihm ganz unwahrscheinlich, daß ein zweites, ebensolches Ohrgehänge in Wei-ping vorhanden sein sollte; ebenso unmöglich, ja undenkbar war, daß Frau Teng einen heimlichen Liebhaber besessen hatte. Streng fragte er den Bettler: »Seid Ihr ganz sicher, daß sie genau dieselben Ohrringe trug?«
»Hört mal, Ihr!« erboste sich der alte Mann, »wenn meine Augen auch zuweilen tränen, aber nur an windigen Tagen, so wette ich hundert gegen eins, daß sie besser sind als Eure; merkt Euch das!«
»Triefauge versteht sein Geschäft«, rief der Korporal ungeduldig. »Jetzt aber, Bruder, ran an den jungen Kerl; das ist Euer Mörder! Wie sah er denn aus, Triefauge?«
»Je nun, wie ein gutangezogener Jüngling eben aussieht. So ne Art Lebemann, möcht ich sagen, guter Trinker, mit roten Flecken auf den Wangen. Hab ihn niemals und nirgends wiedergesehen.«
Richter Di strich bedächtig über seinen Bart. Er sagte zum Korporal: »Ich gehe besser gleich hin und frage die Hausinsassen aus.«
Der Korporal krümmte sich vor Lachen. Er stieß den Richter in die Rippen und sagte: »Ja meint Ihr denn, Ihr seid immer noch der Wachtmeister, he? Die Leute verhaften, sie auf die Folter spannen, und dann, bildet Ihr Euch ein, werden sie Euch alles brav gestehen! Was denkt Ihr, wird die Madame machen, wenn Ihr Fragen an sie stellt? Vielleicht Euren
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