Polinas Tagebuch by Polina Scherebzowa
Autor:Polina Scherebzowa [Scherebzowa, Polina]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644119611
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-02-15T16:00:00+00:00
Über den Bergen hebt sich der Nebel.
In der Ferne lodern Feuersbrünste.
Hier tobt erneut die Schlacht.
Die Widerspenstigen werden mundtot gemacht.
Das ist von dem tschetschenischen Barden Timur Muzurajew. Seine Lieder sind immer rasch ausverkauft. Sie sind beliebt bei Menschen unterschiedlicher Nationalität und unterschiedlichen Glaubens.
Ein anderes Ereignis: Mansurs kleiner Bruder hat mir ordentlich aus der Patsche geholfen. Das kam so. Erwachsene, bewaffnete Tschetschenen kamen in unseren Hausflur. Sehr sportlich und groß. Alle trugen sie schwarze Bärte und schwarze Uniformen. Einer erklärte, er beobachte uns seit langem. Und ich gefalle ihm! Er wolle mich als eine seiner Ehefrauen (!) mitnehmen. Aber nicht mit Gewalt, sondern im Guten. Meine Mama werde er mit Gold (so ist es Sitte) dafür bezahlen, dass sie mich großgezogen hat. Mit diesen Leuten zu streiten, war zwecklos. Zum Glück war Baschir im Hausflur. Er sagte auf Tschetschenisch, dass er mein Bruder sei, dass ich versprochen sei und auf einen Mann warte, der in den Krieg gezogen ist. Meine Mama kam erschrocken aus der Wohnung. Sie bedankte sich für die Ehre, die uns zuteilwurde. Gut, dass Mama das tschetschenische Wort «Bräutigam» noch wusste. Die «Besucher» in Schwarz verneigten sich und gingen.
Wir haben schon oft von den Arabern gehört. Sie holen sich Mädchen – zum Kochen und Waschen. Es wird erzählt, dass im privaten Sektor, nicht weit von uns, bewaffnete Aufständische ein russisches Mädchen mitgenommen haben. Ich kenne sie persönlich. Sie heißt Katja. Blond und mager. Sie ist fünfzehn! Nach zwanzig Tagen gaben sie das Mädchen zurück. Das hatte niemand erwartet. «Ich wurde weder beleidigt noch belästigt», erzählte sie. Der sie zurückbrachte, sagte zu ihren Eltern: «Ihr seid schon sehr alt. Ihr kommt allein nicht zurecht!» Sie teilten mit, dass sie aus der Stadt abziehen.
Mansur war nicht zu Hause. Aber als er von den «Besuchern» erfuhr, verbat er mir, auf die Straße zu gehen. Für junge Mädchen ist es gefährlich, auszugehen. Mansur ist ein Ritter und ein Gentleman. Heute war ich bei ihnen zu Besuch und konnte mich erneut davon überzeugen. Er persönlich deckte den Tisch, servierte, hielt das Gespräch in Gang. Er scherzte sanft, ohne Bosheiten. Mansur sagte, es gebe eine Variante für einen schnellen Krieg: einen Staudamm zu öffnen oder zu sprengen. Die Stadt zu überschwemmen. Dann wird, wie im Altertum, dort Meer sein, wo Grosny war.
Prinzessin Budur
20. November
12.25 Uhr – Gebetszeit. Schon seit einigen Tagen liest auf unserem Hof eine schöne, junge Stimme den «Azan» – den Gebetsruf. Der Mensch bleibt unsichtbar. Wir wissen nicht, wo er ist, doch seine Stimme klingt machtvoll, als käme sie vom Himmel. Womöglich wird seine Stimme von den Ruinen verstärkt. Offenbar haben sich in den weiter entfernten großen Häusern schon neue Bewohner häuslich eingerichtet. Und gestern Morgen, solange die Kampfparteien schliefen, ging ich mit Baschir in die fremden Gärten, um Kohl zu holen. Wir haben ja nichts zu essen. Wir stießen auf einen Garten mit einem großen, gusseisernen Tor und einem Schloss, das nicht aufging. Das war seltsam: Alle Pforten waren längst aufgebrochen, nur diese hier nicht. Durch das Gitter sah man, dass
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