Ninon und Hermann Hesse by Kleine Gisela
Autor:Kleine, Gisela [Kleine, Gisela]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Insel Verlag
veröffentlicht: 2017-01-14T23:00:00+00:00
Abb. 36: Ninon Hesse 1937, Lithographie von Gunter Böhmer
Dolbin hatte ein feines Gehör für die Untertöne in Ninons Briefen. »Aus der kleinen, fast zaghaften Schrift Deines Geburtstagsbriefes hatte ich bereits entnommen, daß Du Dich nicht ganz wohlfühltest.«48 Auch durch Freunde, die ihm von ihr erzählten, habe er »ein ernstes Bild mit zu wenig Sonne« erhalten. Besorgt und verwirrt habe er die Lithographie betrachtet, die Gunter Böhmer von ihr angefertigt und die sie ihm zugeschickt hatte: »Vielleicht war ich zu sehr gespannt darauf, vielleicht hat mir meine Phantasie einen Streich gespielt – ich war auf den ersten Blick enttäuscht.« Allmählich habe er aus der Erinnerung den matten Ausdruck ihrer Silhouette mit seinem Stift ergänzt: »Nun sehe ich Dich, aber ohne Leben, ohne Zeichen der Begeisterungsfähigkeit, des Trotzes, der Mitteilungslust, der Empfangsfreudigkeit, der Gabe zu leiden, der Sucht zu gestalten.«49 Er verglich Böhmers zartlinige Zeichnung, die Ninons Profil als archaisch strenge Kontur vermittelt, mit einem farbigen Aquarell, das die Wiener Malerin Helene Funke im Jahre 1926 von Ninon gemalt und das er in seiner New Yorker Wohnung hängen hatte. Vermochte Böhmer ihre Persönlichkeit nicht voll zu erfassen oder hatte sie sich so gewandelt ins Starre, Unzugängliche, Kalte? Dolbin hatte stets ihre Lust an Witz und Komik geliebt, ihr – trotz manchmal schwerblütigen Beharrens – vorwärtstreibendes Wesen, ihre Freude an Abwechslung und Geselligkeit. So sah er sie vor sich, wenn er ihr schrieb und sie noch 1966 als über Achtzigjähriger im letzten Brief anredete: »Liebe, liebe Ninon.«50
Während das Leben in Montagnola »con sordino«51 verlief, erhielt Ninon neue Anregungen und Impulse durch die Freundschaft mit Hans Carossa.52 Sie war ihm zum ersten Mal anläßlich einer Lesung Hesses im April 1929 in München begegnet. Carossa hatte seiner damaligen Freundin und späteren Frau Hedwig Kerber darüber berichtet: »Du kannst Dir nicht vorstellen, wie leidend und vergrämt dieser Mann aussah. […] Er hatte eine sehr schöne Freundin mitgebracht, und diese konnte ganze Stellen aus dem ›Tagebuch‹ auswendig. Sie stammt aus Czernowitz und war sehr erstaunt, daß ich diese Stadt und ihre Umgebung aus dem Krieg so gut kannte.«53
Ninon hatte damals in ihrem langen und lebhaften Gespräch mit Carossa erfahren, daß er aus einer oberitalienischen Familie stammte und von der antiken Welt ebenso angezogen wurde wie sie. Als bayerischer Landarzt war er zudem fest in der heimatlichen Landschaft und in deren christlich-katholischer Tradition verwurzelt. Auf diesem Boden wuchs sein Urvertrauen in die Schöpfung, das er am Anfang seines Kindheitsromans als seine früheste Erinnerung beschrieben hatte: Ein Komet zog als langer Bogen weißen Lichts am nachtschwarzen Himmel vorüber. Der Dreijährige, unberührt von Furcht und Entzücken um sich herum, »saß am Arm der Mutter und spürte durch sie hindurch den sicheren Gang der Welt«.54
Ninon und Carossa empfanden sofort Sympathie füreinander. Neben Künstlern waren es meist Ärzte gewesen, die auf sie eine starke Anziehungskraft ausgeübt hatten. Hans Carossa war Dichter und Arzt zugleich. Es ging eine starke persönliche Ausstrahlung von ihm aus, er war von weltoffener Geistigkeit.
Mit Staunen erkannte Ninon an Carossa die gemeinsame Wurzel von Heilkunst und Dichtung. Beides bedeutete für ihn Lebenshilfe und Betreuung, beides war sein Versuch, das Leid in der Welt zu bekämpfen.
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