Memoiren einer Sozialistin by Braun Lily

Memoiren einer Sozialistin by Braun Lily

Autor:Braun, Lily
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-03T00:00:00+00:00


Eisig fegte der Ostwind durch die Straßen, feine, schimmernde Eiskristalle tanzten in der Luft, und der Rauhreif wandelte den Tiergarten in ein Wintermärchen. Jeden Morgen begleitete ich jetzt Georg in die Universität. Seine Vorlesungen über soziale Ethik füllten das Auditorium bis in den fernsten Winkel, und leidenschaftlich erregte Menschen – alte und junge – Männer und Frauen – begrüßten ihn mit heftigem Beifallsgetrampel. Hinter dem Pult war nichts von ihm zu sehen als der bleiche, dunkel umrahmte Kopf mit den strahlenden Kinderaugen. Er sprach, wie er noch nie gesprochen hatte, er geißelte die Sünden des Kapitalismus mit einer Schärfe, wie sie in diesen Räumen noch nie gehört worden war, und verteidigte die Rechte der Frauen und die der Arbeiter mit einer Begeisterung, die alles mit sich fortriß.

»Der Glaube, daß wir jetzt vor tief gehenden Wandlungen, vor einer Weltwende stehen, wie die Menschheit noch keine erlebt hat, ist eine Überzeugung, die immer weitere Kreise ergreift ... Jetzt ist keine Zeit mehr zu beschaulichem Träumen ...« – Seine Stimme hob sich in ungewohnter Kraft und bekam einen Klang wie eine tiefe Glocke. »... Wir müssen uns klar werden über die Lage der Dinge und wach sein für die Nöte des Tages ... Wir müssen uns bewußt werden, wohin wir gehören ...«

»Er spricht sein Todesurteil ...« hörte ich leise flüstern. Kirchenstill war es. Er wurde vom Katheder heruntergehoben, sein Rollstuhl setzte sich in Bewegung, mit scheuer Ehrfurcht grüßten ihn die Studenten.

Fauchend schlug ihm der Wind in das heiße Gesicht, als wir ins Freie traten, und fröstelnd zog er sich den Pelzkragen höher. Vergebens bat ich ihn, sich aus seinem offenen Rollstuhl in einen geschlossenen Wagen heben zu lassen. Den ganzen langen Weg über die Linden, durch den Tiergarten, über den Lützowplatz kämpften wir mühsam wider den Schneesturm.

Vor unserem Hause ging ein Herr auf und ab: groß und schlank, den feingeschnittenen Kopf zurückgeworfen, den Bart keck in die Höhe gewirbelt, – »Hessenstein!« rief ich überrascht.

»Kein anderer, gnädige Frau!« sagte er und küßte mir die Hand – »ich warte auf Sie – ich konnte Europa nicht verlassen, ohne von Ihnen Abschied zu nehmen –«

Wir begaben uns zusammen in unsere Wohnung. Seltsam fragend betrachtete Georg den Gast, den ich so freudig willkommen hieß.

»Sie verlassen Europa?« frug ich, »und warum?«

»Seit meinen kriegerischen Erfahrungen im Bergwerksbezirk war mir nicht mehr wohl im bunten Rock –« antwortete er, während sein Blick sekundenlang peinlich überrascht zwischen Georg und mir hin und her flog – »und die neu eröffnete Aussicht, gelegentlich einmal auf Eltern und Geschwister schießen lassen zu müssen, hat meinen militärischen Ehrgeiz auch nicht wesentlich steigern können. – – Ich habe einen Bruder in Java, – dorthin will ich. Eigentlich auch kein erstrebenswertes Ziel! Aber – was soll man tun –, wenn man den Mut nicht aufbringt, unter die Roten zu gehen!«

»Dann ist Ihre Wahl sicherlich die beste,« sagte Georg mit feindseliger Schärfe. Rote Flecken brannten ihm über den Backenknochen.

Sichtlich verletzt, erhob sich Hessenstein. In dem Wunsch, gut machen zu wollen, was Georg verfehlt hatte, war ich doppelt herzlich.

»Vielleicht



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