Lotostochter by Mörtl Anisha

Lotostochter by Mörtl Anisha

Autor:Mörtl, Anisha
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2011-11-14T05:00:00+00:00


Um meinen Adoptiveltern zu zeigen, dass ich durchaus in der Lage war, für mich selbst zu sorgen, suchte ich mir einen Nebenjob. Durch das Austragen von Zeitungen wollte ich mein Taschengeld aufbessern. Meine Adoptivmutter allerdings war strikt dagegen − warum, das habe ich nie begriffen. Nur ein Verdacht reifte in mir heran: Wollte sie vielleicht mit allen Mitteln verhindern, dass ich mehr Selbstständigkeit erlangte?

Aber so schnell gab ich nicht auf. Wochenlang kämpfte ich darum, diesen Job machen zu dürfen. Schließlich gab meine Mutter nach. Wie groß war meine Enttäuschung jedoch, als ich feststellte, dass sie mir von nun an ab und an den Betrag, den ich monatlich verdiente, vom Taschengeld abzog.

In dieser Zeit schwoll unser Streitpotenzial wieder gewaltig an. Mein Vater zog sich immer mehr zurück, und ich hatte den Eindruck, dass es ihm völlig gleichgültig war, wie es mir ging. Natürlich stimmte das nicht. Erst vor Kurzem gestand er mir, dass es ihm damals jeden Tag davor gegraut hatte, nach der Arbeit nach Hause zu kommen, weil dort täglich ein neuer Kampf auf ihn wartete. In der Nähe unseres Hauses steht eine Bank im Grünen, und ehe er sich ein Herz fasste und in unser unschönes Familienleben eintauchte, setzte er sich dort heimlich jeden Tag für zwanzig Minuten hin, um sich innerlich zu wappnen. Es war wohl wirklich sein Herz, das zu dieser Zeit am meisten litt, denn kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, im September 2005, erlitt mein Vater einen Herzinfarkt.

Ich werde nie vergessen, wie ich mitten in der Nacht von lauten Stimmen aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Noch völlig benommen tapste ich aus meinem Zimmer auf den Flur und sah dort einen Notarzt und Sanitäter. Im Schlafzimmer meiner Eltern wand sich mein Vater und schrie laut vor Schmerzen. Ich war so schlaftrunken, dass ich alles wie durch einen dichten Schleier wahrnahm, wie in einem Albtraum, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Und ohne mir wirklich bewusst zu werden über das, was hier geschah, legte ich mich wieder ins Bett und schlief weiter. Später warf mir meine Adoptivmutter vor, wie herzlos und kalt ich doch sei. Und auch ich begreife bis heute nicht, wie ich in dieser Situation einfach wieder einschlafen konnte.

Wenn ich an diese Nacht zurückdenke, muss ich mich zusammenreißen, um nicht immer noch starke Schuldgefühle zu verspüren. Denn am Abend zuvor war etwas geschehen, was ich mir davor nie hätte vorstellen können: Zum allerersten Mal hatte ich meinen Vater derart angeschrien. »Warum lässt du mich immer so im Stich?«, brüllte ich unter Tränen. Immer war er so gelassen, ganz egal, wie schlecht es mir ging, so als interessiere es ihn überhaupt nicht. Wie konnte er seit Jahren einfach so dabei zusehen, wie meine Adoptivmutter mir das Leben zur Hölle machte? Wieso wies er sie nicht in ihre Schranken, warum bezog er nicht ein einziges Mal Stellung?

Ich war zu jung, um zu begreifen, wie sehr auch er unter der Situation litt. Er war immer so ruhig geblieben. Konfrontationen versuchte er sachlich zu lösen, und wenn das nicht möglich war, dann ging er ihnen aus dem Weg.



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