Lichtspiel by Daniel Kehlmann

Lichtspiel by Daniel Kehlmann

Autor:Daniel Kehlmann [Kehlmann, Daniel]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2023-10-09T22:00:00+00:00


Hochland

Pabst hatte selten einen so spektakulären Sonnenaufgang gesehen. Erstarrte Flammen schienen sich über den Horizont zu ziehen, Gletscher funkelten, Gewölk hing in feurigen Fasern im Himmel. Sekunden später ließ gleißendes Tageslicht die taufeuchten Wiesen aufstrahlen.

Ausgerechnet hier wollte sie also Spanien vortäuschen, im bayerischen Krün. Ein ganzes Dorf hatte sie aus Sperrholz bauen lassen, Geld hatte keine Rolle gespielt: weiße Mauern, maurische Balkone, darüber aus Pappe die Umrisse eines scheinbar fernen, majestätischen Schlosses. Er hätte das alles ja viel billiger im Studio gemacht, aber sie wollte natürliches Licht, und ihrer Meinung nach sahen die bayerischen Berge genau wie die Sierra Madre aus.

Er war gestern angekommen, hatte unruhig geschlafen, war um halb fünf Uhr morgens geweckt worden und hatte dann den Kameraleuten und Requisiteuren beim Aufbauen zugesehen. Erstaunlicherweise waren die Statisten, die sonst ja immer zuletzt kamen, schon hier: etwa dreißig Männer, die auf ihre Hände bliesen und von einem Fuß auf den anderen traten, weil ihnen so kalt war. Sie mussten schon in der Dunkelheit gekommen sein.

Aus dem Drehplan wusste er, dass zuerst eine Tanz-Einstellung an der Reihe war. Das überraschte ihn nicht. Ihre wahre Berufung, so wiederholte sie regelmäßig in allen Illustrierten, sei der Tanz! Schon damals, auf dem Gletscher, hatte sie unbedingt tanzen wollen. Fanck hätte wohl nachgegeben, aber Pabst hatte es verhindern können.

Er wollte nicht hier sein. Er war in Gedanken ganz bei Komödianten, dem Film, den er vor ein paar Wochen in den Studiohallen in Geiselgasteig abgedreht hatte und den er jetzt schneiden musste.

Griffith und Lang konnten Bilder besser aufbauen als er, und ohne Zweifel war Reinhardt ihm in der Arbeit mit Schauspielern überlegen, aber niemand konnte besser schneiden. Idealerweise war ein Film eine einzige Bewegung, jede Einstellung musste mit der nachfolgenden verbunden sein: Rollte hier ein Ball von links nach rechts, so musste als Nächstes ein Auto oder eine Handbewegung oder ein eintretender Mensch die Bewegung fortführen. Wenn jemand den Kopf nach oben drehte, musste als Nächstes etwas aufsteigen, nie durfte die Kamera sich ohne Anlass drehen, immer musste sie einer Bewegung folgen. So kam es, dass man oft stundenlang über den Zelluloidschnipseln saß und sich den Kopf zermarterte, nur um zu verhindern, dass der Fluss unterbrochen wurde. Denn manchmal hatte man sie einfach nicht, die Einstellung, die man gebraucht hätte; es war endloses Puzzlespiel. Aus dem Chaos des Materials, das man unter den aberwitzigsten Umständen an vielen Orten über lange Zeit eingesammelt hatte, setzte man etwas zusammen, das am Ende wirken musste wie eine feste und notwendige Einheit.

Aber stattdessen war er hier, in diesem elenden Dorf, weit weg von seiner Arbeit. Er sah sich um. Ganz in der Nähe saß ein dicklicher junger Mann mit klugen Augen und einer Halbglatze und blies bedächtig grauen Rauch in die Luft.

«Haben Sie eine für mich?»

Der junge Mann warf ihm einen amüsierten Blick zu. Dann stand er auf, kam herüber, reichte Pabst eine Zigarettenschachtel aus Messing und ließ ein Feuerzeug aufschnappen, Pabst zog eine Zigarette heraus, hielt sie in die kleine Flamme und stellte sich vor.

«Ich weiß natürlich, wer Sie sind», sagte der junge Mann.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.