Letzte Ausfahrt Oxford by Veronica Stallwood

Letzte Ausfahrt Oxford by Veronica Stallwood

Autor:Veronica Stallwood [Stallwood, Veronica]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: General Fiction
veröffentlicht: 2013-10-15T00:00:00+00:00


VI

Charakterschilderung

Es gibt Menschen, die sind so kompromisslos tugendhaft, dass sie wirklich keinen Platz in unserer Welt haben (was ich, wenn ich ehrlich bin, vielleicht erst hinterher behauptet habe). Erzählt man ihnen eine Geschichte, die man ein wenig ausschmückt, um sie witziger zu gestalten, unterbrechen sie einen garantiert mit einer Bemerkung wie: »Aber sie hat doch sicher nicht wirklich mit den Kuchenstücken jongliert …«, oder was auch immer man an kleinen Übertreibungen zu seiner Grundidee hinzugefügt hat. Eine derartig wortklauberische Wahrheitsliebe macht ihnen das Leben in unserer Welt nicht leichter. Zumindest nicht, wenn sie überleben wollen. Wenn ich zum Beispiel um drei Minuten vor zwölf in die Mittagspause gehe, schreibe ich (wie Sie vermutlich auch) 12:00 Uhr auf, um die anschließende Berechnung zu vereinfachen. Sie hingegen folgt mir auf dem Fuß, atmet mir höchst ernsthaft in den Nacken und schreibt 11:55 Uhr hin. Meine Bemerkung, es sei Zeitqualität, die zähle, und nicht etwa Zeitquantität, schien ihr nicht zu gefallen. Ich konnte ihr deutlich die Konzentration ansehen, die einer aufgeblasenen Bemerkung über die Natur des Vertrages zwischen Arbeitgeber und Angestellten vorausging. Auch das war typisch für Jenna: Sie musste immer alles, wirklich alles, was in ihrem Kopf vorging, loswerden, und zwar sofort. Sie war nicht in der Lage, ihre Gedanken zurechtzustutzen, zu kürzen oder möglicherweise ganz für sich zu behalten.

»John«, erklärte sie mit dem ihr eigenen Ernst, der mit jedem Atemzug über ihre dicken, bleichen Lippen strömte, »es gibt da eine äußerst wichtige Sache, über die ich mit dir reden muss.«

Zu schade, dass die dumme Pute nicht wenigstens bei dieser Gelegenheit ihre Meinung für sich behalten hat.

Ich war immer der Ansicht, dass es die Pflicht junger Leute ist, attraktiv auszusehen. Insbesondere gilt das für Frauen. Selbst wenn sie nur über wenige natürliche Vorzüge verfügen, können sie immer noch einiges daraus machen, wenn sie sich nett kleiden, dafür sorgen, dass ihr Haar duftig und sauber ist, und sich der Kosmetik bedienen, um so hübsch wie möglich auszusehen. Eine junge Frau darf einfach nicht mit fettigen, strähnigen Haaren in der Bibliothek sitzen, ihren feisten Körper in ausgebeulte Sweatshirts und viel zu enge schwarze Leggins stecken und mit dicken Stiefeln an ihren großen Füßen herumlatschen. Und vor allem sollte sie lächeln. Für weibliche Frauen sollte das verpflichtend sein und ist sicher nicht zu viel verlangt, oder? Überhaupt sollte die krönende Pracht jeder Frau ihr Haar sein. Warum hat Jenna ihres nicht wachsen lassen? Ihre Haarfarbe war nicht schön. Es war nicht das Rotbraun, das ich so gern sehe, aber sie hätte zumindest etwas tun können, um das Haar dicker und welliger aussehen zu lassen. Andere junge Frauen tun es doch auch. Warum hat sich Jenna nicht im Geringsten angestrengt, ein wenig hübscher zu wirken? Ich bin sicher, ich hätte über eine Zukunft des Mädchens nachgedacht, wenn ich wenigstens an eine Perspektive hätte glauben können.

Alle behaupteten, Jenna habe ein gutes Herz. Wenn Jenna der Meinung war, dass jemand ihrer Fürsorge bedurfte, dann kümmerte sie sich um ihn. Ohne Zögern und ohne Umschweife. Mich hat sie nie



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.