Kursbuch 178 - 1964 by Armin Nassehi (Hrsg.) & Peter Felixberger (Hrsg.)
Autor:Armin Nassehi (Hrsg.) & Peter Felixberger (Hrsg.) [Nassehi, Armin & Felixberger, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Gesellschaft, Journalismus, Kultur, Kulturkritik, Kursbuch, Generationsdifferenzen, Babyboomer, ok-boomer, Generationseigenheiten, Moderne, Konsumismus
ISBN: 9783867744010
Herausgeber: Kursbuch Kulturstiftung
veröffentlicht: 2014-06-02T22:00:00+00:00
Allerlei Vermächtnis
Wir scheitern. Scheitern gehört dazu, wenn man etwas riskiert. Scheitern gehört dazu, wenn man selbstbewusst vorträgt, was man will. Scheitern gehört dazu, wenn man jede Entscheidung hinterfragt. Scheitern gehört dazu, wenn man sich einer unüberschaubaren, unabgeschlossenen und unendlichen Menge von Daseinsformen gegenübersieht. Wenn wir scheitern, ziehen wir daraus immer eine Lehre für unsere Wege und für unsere Persönlichkeit, so dass wir dem kurzfristigen Schlamassel nicht selten ganz außerordentlich und ergriffen dankbar sind. Wir preisen ihn an als einen Abschnitt in unserem Leben, dem wir eine so wichtige Entwicklung verdanken. Wir geben uns begeistert, dass unsere letzte Liebesbeziehung zu Bruch gegangen ist, weil uns das wieder unseren eigentlichen Wünschen an eine Partnerschaft um ein Stückchen näher gebracht hat. Wir sind geradezu beglückt, dass unser erstes Studium im Sand verlaufen ist, weil wir nur so unsere eigentlichen Talente entdecken konnten. Wir gefallen uns darin, anderen zu berichten, dass wir den Job bei Boston Consulting nicht bekommen haben, aber somit wissen, wo unsere Grenzen sind und an welchen Fertigkeiten wir noch arbeiten müssen. Meisterlich gelingt es uns, immer ein gewichtiges Stück selbstgerechter Motivation aus unseren gescheiterten Projekten zu ziehen. Letztlich müssen wir uns gar nicht mehr rechtfertigen, wenn wir mal etwas nicht mehr im Griff haben. Jeder fehlerhafte Schritt wird uns verziehen. Schließlich können wir eigentlich gar nicht mehr scheitern, weil wir erstens das Scheitern niemals als Rück-, sondern immer als Fortschritt inszenieren, und zweitens stets weich fallen.
Wir sind schrecklich verwöhnte Bälger, die sich in das Nest einer vollkommen abgesicherten Wohlstandsgesellschaft setzen und sich alles leisten können. Tatsächlich sind wir diejenigen, die nichts, wirklich gar nichts selbst erschaffen haben. Stattdessen zehren wir von dem Allerlei, das von eurer Suche nach einem attraktiven und hervorstechenden Eindruck übrig geblieben ist. Wir schöpfen aus den Artefakten eurer Kreativität und basteln uns daraus ein originell erscheinendes Mosaik, das wir dann unsere immanente und autarke Individualität nennen. Von einer abgesonderten und charakteristischen Stellungnahme kann also kaum die Rede sein. Wir interessieren uns schließlich hauptsächlich für uns selbst und nicht für die Verbesserung der Welt. Im Gegensatz zu euch haben wir uns nicht mal den Gestus einer revolutionären Haltung abgeschaut, geschweige denn selbst entwickelt. Stattdessen verstecken wir uns hinter einer Fassade der tiefgründigen Reflexion. Das ist und bleibt der Vorwand für unsere unkritische und naive Art, mit gesellschaftlichen Strukturen umzugehen. Zwar hinterfragen wir sie, aber jeder weitere Schritt erscheint uns zu anstrengend. Anstatt unsere Verantwortung für das Soziale tatsächlich wahrzunehmen, bedecken wir uns mit dem Schleier, alles zu durchblicken, aber nichts zu erzwingen – also auch nichts ändern zu wollen.
Ist es nicht heuchlerisch, euch im gleichen Zuge als verblendete Pseudo-Emanzen zu bezeichnen? Und trotzdem unterstützt ihr uns. Ihr habt uns so aufgezogen, dass es im Leben hauptsächlich um eines geht: um uns. »Ach, Cellospielen gefällt dir nicht mehr? Hier hast du einen Steinway-Flügel.« »Ach, du kannst den Mathelehrer nicht leiden? Ich bespreche mich mit der Schulleitung, damit ihr einen anderen bekommt.« »Ach, das erste juristische Staatsexamen hat dir gezeigt, dass das nicht dein Ding ist? Wie wäre es stattdessen mit einem Medizinstudium?« Natürlich übertreibe ich.
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