Kopflos by Tallis Frank
Autor:Tallis, Frank [Tallis, Frank]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-01-29T05:00:00+00:00
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In Wien gab es viele Wärmestuben, in denen Notleidende ungeachtet ihrer Umstände und Herkunft vor der Kälte Schutz suchen und etwas zu essen bekommen konnten. Niemand wurde gefragt, wie bedürftig er war, oder musste seine Ausweispapiere vorzeigen. Anna und Olga waren stolz auf ihre Wärmestube am Spittelberg. Diese hatten sie mit großen Stiftungen der Barone Königswarter und Epstein einrichten können. Die Eröffnung war sehr glamourös gewesen (einige fanden, abgeschmackt glamourös) und hatte in Anwesenheit der Tochter des Kaisers, der Erzherzogin Marie Valerie, stattgefunden, die Patronin des Wiener Wärmestuben-Verbands war.
Anna und Olga standen hinter einem riesigen Topf mit siedender Suppe. Anna schöpfte die dicke gelbe Suppe in Blechschüsseln, die von Olga der Reihe nach an die bedürftigen Personen in der Schlange weitergereicht wurden. Eine dritte Dame verteilte Brot und Löffel. Damit wurde mechanisch fortgefahren, bis alle in der Schlange ihre Suppe bekommen hatten.
Die Spittelberg-Wärmestube war größer als die meisten anderen und mit einem Speisesaal mit stabilen, in Reihen aufgestellten Bänken ausgestattet. Alle Plätze schienen besetzt zu sein, und Anna musste die Anwesenden bitten zusammenzurücken, um Platz zu schaffen. Obwohl die Wärmestube voll war, war es erstaunlich ruhig. Alle, die sich dort versammelt hatten, einschließlich der Kinder, waren zu erschöpft, ausgehungert oder verfroren, um zu lärmen oder sich zu unterhalten. Der Zwiebel- und Knoblauchduft der Suppe war nicht stark genug, um den unangenehmen Geruch ungewaschener Kleider und abgestandenen Atems zu überdecken. Einige Leute in der Wärmestube waren sehr weit gereist, um nach Wien zu kommen. In dieser Woche hatte ein Mann behauptet, den ganzen Weg von Odessa überwiegend zu Fuß zurückgelegt zu haben.
Es klapperte, besorgte Stimmen wurden laut. Ein leerer Blechnapf rollte in immer kleiner werdenden Kreisen über den Fußboden und fiel schließlich auf die Seite. Eine junge Frau, die bewusstlos geworden war, hatte ihn in der Hand gehalten. Ihre Banknachbarin hatte sie aufgefangen, als sie zusammengesackt war, und sie so daran gehindert, von der Bank zu fallen.
Anna und Olga eilten zur Hilfe herbei.
»Ich dachte schon, dass sie krank ist«, flüsterte Anna ihrer Gefährtin zu. »Als sie ihre Suppe holte, fiel mir auf, dass sie zusammenzuckte, so als hätte sie Schmerzen. Beim Weggehen zog sie wie eine alte Frau die Füße nach.«
»Michael, Egon«, rief Olga. »Kommt her.« Zwei Gehilfen traten an die Bank. »Bringt die junge Dame nach nebenan und legt sie auf das Ruhebett. Dann muss einer von euch einen Arzt holen.«
Wenige Minuten später kehrte Michael mit einem würdigen älteren Herrn mit weißen Haaren, einer Halbbrille und einem Spitzbart zurück. Er stellte sich als Doktor Janosi vor. Anna und Olga ließen ihn mit seiner Patientin allein. Als er schließlich, fast eine Stunde später, aus dem Zimmer kam, begleiteten sie ihn zu einem Raum im ersten Stock, der sonst für Versammlungen genutzt wurde.
»Ich fürchte, es geht ihr sehr schlecht«, sagte der Doktor, »und dass sie der Pflege im Krankenhaus bedarf.«
»Was fehlt ihr denn?«, fragte Anna.
»Sie hat eine Verletzung.«
»Welcher Art?«
»Meine Damen«, erwiderte der Doktor, »es ist mir gelungen, die junge Frau mit Riechsalz wieder zu Bewusstsein zu bringen. Sie kommt aus Galizien. Sie weilte, bis vor ein paar Tagen, in einem verrufenen Haus hier am Spittelberg.
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