Kann Kapitalismus moralisch sein? (German Edition) by Comte-Sponville André
Autor:Comte-Sponville, André [Comte-Sponville, André]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Philosophie
ISBN: 9783257606171
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 2014-12-28T05:00:00+00:00
Entspricht der Gegensatz zwischen Blauäugigkeit und Barbarei in den beiden von Ihnen definierten Bedeutungen nicht dem traditionelleren Gegensatz zwischen Links und Rechts?
Das könnte man meinen, vor allem wenn unsere politischen Parteien sich, was häufig vorkommt, wie Karikaturen ihrer selbst verhalten. Die Linke geriert sich großzügig (sie maßt sich gern das »Monopol des Herzens« an) und verteidigt vor allem Ideale. Die Rechte hat Effizienz auf ihre Fahnen geschrieben: Sie verteidigt vor allem Interessen. Doch wäre es nur das, könnten wir schwerlich der Lächerlichkeit entgehen: Wir hätten die Wahl zwischen einer Lächerlichkeit der Linken (der moralisierenden Blauäugigkeit) und einer Lächerlichkeit der Rechten (der technokratischen oder liberalen Barbarei). Das ist jedoch nicht der Fall. Herz und Effizienz gehören niemandem. Auch die Lächerlichkeit nicht. Es gibt eine Barbarei der Linken, ich habe sie nebenbei erwähnt: Der Stalinismus war das spektakulärste und schrecklichste Beispiel dafür. Und es gibt gelegentlich auch eine Blauäugigkeit der Rechten: In Frankreich ist der Gaullismus hin und wieder in diesen Fehler verfallen. Ich glaube also nicht, dass sich diese beiden Gegensätze decken. Wenn wir die zwei Begriffe sinnvoll auf das politische Leben anwenden wollen, sollten wir lieber sagen, dass die Blauäugigkeit eine lässliche Sünde von Oppositionsparteien, der linken wie der rechten, ist, die Barbarei hingegen die »natürliche« Neigung der Parteien an der Macht. Solange man in der Opposition ist, appelliert man mit großen Worten an den politischen Willen, an die Moral, manchmal sogar an das Herz… Ist man dann an der Macht, führt man die Geschäfte. Diese lächerliche Form des Wechsels gilt es zu überwinden, um dem demokratischen Wechsel seine wahre Bedeutung wiederzugeben.
Und dann ist da noch etwas anderes. Der moralische Ansatz ist für Individuen natürlich legitim. Auf der Ebene politischer Parteien verliert er, von Ausnahmen abgesehen, viel von seiner Gültigkeit. Das wissen wir seit Machiavelli. »Es ist nicht nötig, dass der Fürst tugendhaft ist«, sagte er scharfsinnig, »es genügt, wenn er dafür gilt.« Das gilt auch von unseren Regierenden, die gewählte Fürsten sind. Nehmen wir beispielsweise eine Präsidentschaftswahl… Selbstverständlich ist es besser, nicht für einen ausgemachten Schurken zu stimmen. Die Moral setzt, wie gesagt, die äußeren Grenzen fest. Aber müssen wir deshalb stets den tugendhaftesten, großzügigsten, liebenswürdigsten Kandidaten wählen? Natürlich nicht! Glauben Sie, Abbé Pierre wäre ein guter Staatspräsident geworden? Ich fürchte, so wenig, wie General de Gaulle einen guten Abbé abgegeben hätte… Beispielsweise habe ich 1981 im ersten Wahlgang für François Mitterrand gestimmt. Hätte ich den meiner Meinung nach moralisch integersten Kandidaten wählen müssen, hätte ich mich anders entschieden! Na und? Es geht nicht darum, einen Tugendpreis zu vergeben, einen Freund oder einen geistlichen Lehrer zu wählen… Es geht um Politik, anders gesagt, um Interessenkonflikte, um Kräfteverhältnisse, Bündnisse und Programme!
Ja, im Prinzip. Aber wir leben in einer Mediendemokratie, vor allem Fernsehdemokratie. Das verändert großenteils die Gegebenheiten des Problems! Stellen wir uns vor, wir lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Betrachten wir zwei bedeutende Politiker jener Jahre, Jaurès und Poincaré. Die überwältigende Mehrheit der Franzosen kannte sie nicht als Individuen.
Einige Tausend haben sie auf Wahlversammlungen gesehen, aber von weitem: Da haben sie mehr ihren Reden gelauscht als ihre Gesichter betrachtet.
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