Jessica – Alles Glück hat seinen Preis by Carrington Ashley

Autor:Carrington, Ashley
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Weltbild
veröffentlicht: 2014-05-01T16:00:00+00:00

15

Anne hatte sich vom ersten Tag an mit großer Begeisterung an die Arbeit gemacht, für sich und ihre Herrin hübsche neue Kleider zu nähen. Es war eine mühsame, zeitraubende Beschäftigung, der Jessica schon nach wenigen Stunden überdrüssig war. Im Gegensatz zu ihrer Zofe widersprach es ihrer ganzen Natur, sich tagsüber allzu lange in der Kabine aufzuhalten. Sie brauchte Bewegung, frische Luft und den Himmel über sich, wenn sie sich schon nicht auf ein Pferd schwingen und über ihre Ländereien reiten konnte. Anne dagegen zog die behagliche Überschaubarkeit ihres Raums dem offenen Deck bei Weitem vor. Und da Daisy dies mit ihr gemein hatte, war Anne selten an Deck anzutreffen.

Jessica beklagte sich nicht darüber. Insgeheim war sie sogar froh, denn so vermochte sie ihre wachsende Vertrautheit mit Henry Thornton ohne große Anstrengung vor ihr zu verbergen, ohne sie anlügen zu müssen. Sie genoss die Stunden, die sie in seiner Gesellschaft verbrachte. Er war ein großartiger Unterhalter mit einem Interesse für die unterschiedlichsten Dinge und einer dementsprechend umfassenden Bildung, der jedoch die gewöhnlich mit anerzogene Überheblichkeit seiner Klasse fehlte. Denn dass er adliger Abstammung war, wurde für Jessica schon nach kurzer Zeit zur Gewissheit. Es gab dafür viele Anzeichen in seinen Erzählungen, aber sie fragte ihn nicht danach, und sie hatte das Gefühl, dass er ihr das hoch anrechnete.

Henry Thornton war jedoch nicht nur unterhaltsam und amüsant, sondern er war auch ein Mann, der spürte, wann seine erotische Ausstrahlung einer Frau arg zusetzte. Ihm blieb nicht verborgen, dass sie sich so stark zu ihm hingezogen fühlte wie er zu ihr. Er wusste inzwischen, dass sie verwitwet und somit wie er frei war. Doch er bedrängte sie nicht, sondern beließ es bei Worten, Blicken und gelegentlichen Berührungen, um sie seine Verliebtheit und sein Verlangen spüren zu lassen.

Jessica fühlte sich zwischen ihrer Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeit und Leidenschaft – ja, Leidenschaft! – und der Stimme ihrer Vernunft hin und her gerissen. Diese Affäre konnte zu nichts anderem als weiterem Kummer und Tränen führen. Denn Henry hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er für Australien nicht geschaffen war und es auch nicht wiederzusehen wünschte. Sie dagegen konnte sich ein Leben anderswo als auf SEVEN HILLS nicht mehr vorstellen.

Und doch drängte es sie danach, ihren Gefühlen zu folgen, sich ihm hinzugeben und in seinen Armen endlich wieder das sinnliche Glück zu finden, als Frau begehrt und leidenschaftlich geliebt zu werden.

Wochenlang wogte der Kampf zwischen Vernunft und Gefühl in ihr, während die SULTANA bei klarem Himmel und zahmer tiefblauer See unter voller Besegelung Meile um Meile durch den Indischen Ozean pflügte, dem Kap der Guten Hoffnung entgegen.

Von alldem ahnte Anne nicht die Spur. Doch was Jessica nicht länger vor ihr verbergen konnte, war ihre Schwangerschaft. Nicht, dass man ihr etwas hätte ansehen können. Sie befand sich gerade im vierten Monat, und ihr Leib wies noch keine verräterische Wölbung auf.

Es war die Übelkeit, die sie verriet. Wochenlang war sie von dem morgendlichen Brechreiz verschont geblieben. Doch dann kehrte er wieder, und nicht immer gelang es ihr, das Übelkeitsgefühl in Annes Gegenwart unter Kontrolle zu halten.

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