In guter Verfassung by Frankfurter Allgemeine Archiv

In guter Verfassung by Frankfurter Allgemeine Archiv

Autor:Frankfurter Allgemeine Archiv
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlag
veröffentlicht: 2019-06-03T09:53:48+00:00


Verfassungspatriotismus

Es herrschte kaum Begeisterung vor dreißig Jahren, als der Parlamentarische Rat die Arbeit abschloss. Was die Bevölkerung angeht, so erfuhr sie nicht allzu viel davon, wurde auch nicht aufgerufen, ihr Votum abzugeben.

Von Dolf Sternberger

Die Mitglieder dieser verfassunggebenden Versammlung ihrerseits taten ihr Werk eher in einer gedrückten Seelenlage. Es war nur ein Teil der Nation, für den feie handeln konnten. So meinten viele von ihnen, auch dem Staat, den sie widerstrebend schufen, einen bloß vorläufigen oder bloß interimistischen Charakter aufprägen zu sollen. Der klanglose Name 'Grundgesetz' zeugt von solcher Zurückhaltung. Man sprach gleichsam mit gedämpfter Stimme, arbeitete mit zögernden Händen – in der Trauer um die Zertrennung der Nation, in der zagen Hoffnung auf einen künftigen freien Akt des ganzen Deutschlands.

Noch immer trauern wir, noch immer hoffen wir. Doch ist den nationalen Gefühlen seither ein helles Bewusstsein von der Wohltat dieses Grundgesetzes zugewachsen. Die Verfassung ist aus der Verschattung hervorgekommen, worin sie entstanden war. In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten; die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet, der eben auf die Verfassung sich gründet. Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.

Alle spüren es, die meisten wissen es, einige freilich wollen es partout nicht wahrhaben, dass hier die Luft der Freiheit weht. Man muss nur begreifen, dass es keine Freiheit geben kann ohne Staat. Und keine Menschenrechte außerhalb des Staates, der sie nämlich in Bürgerrechte verwandelt. Und keinen Staat ohne Behörden. Überhaupt sollen wir uns nicht scheuen, das Wort 'Staat' zu gebrauchen. Das Wort 'Demokratie' kann kein Ersatz dafür sein, es führt eine Träumerei mit sich, als ob es eigentlich auch ohne Regierung ginge, wenn man das Volk nur machen ließe. Darum ist es besser, sich vor Augen zu halten, dass es in unserem Verfassungsstaat nicht das 'Volk' ist, das 'sich selbst' regierte, dass es darin vielmehr Regierende und Regierte gibt, eine Minderheit von Regierenden und eine Mehrheit von Regierten. Das ist unaufhebbar. Aber diese Regierten sind zugleich die Wähler, und diese Regierenden sind die Gewählten; die Regierenden hängen in gewisser Weise und in gewissem Maße von den Regierten ab. In jenen sonderbaren Vereinen, die politische Parteien heißen, sind Regierende und Regierte, Bewerber, und ihre Anhänger miteinander organisatorisch verbunden. Die Parteien sitzen in den Parlamenten, bilden kooperierende und konkurrierende Mannschaften, treten in aller Regel in wechselseitiger Kritik auseinander, in einen regierenden und einen opponierenden Teil. Wir haben eine Auswahl, ein Wechsel im Regierungsamt ist möglich, wenn auch mühsam. Im Bund hatte zwanzig Jahre lang die eine, zehn Jahre lang die andere Gruppierung die Führung inne.

Die Staatsgewalt ist nicht an einem Ort konzentriert, weder oben noch unten, weder links noch rechts, sie ist vielmehr weit herum verteilt, wir nehmen auf allerlei Art an ihr teil, nicht nur leidend, auch tätig.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.