Im Zeichen der Medusa by Michael Dibdin

Autor:Michael Dibdin
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Aurelio Zen, Italien, Kriminalroman, Spannung, Südtirol
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2015-12-22T00:00:00+00:00

12

Il Paradiso è allʼOmbra delle Spade. Ja, dachte er. Das Paradies liegt im Schatten der Schwerter. Seit über zwanzig Jahren musste er an dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs im Herzen dieses Stadtteils von Rom, den er immer als sein »Dorf« bezeichnete, mindestens zweimal am Tag vorbeigekommen sein, doch der letzte Satz der schlichten und prägnanten Inschrift rührte ihn immer wieder.

Die Sonne war bereits hinter den Dächern im Westen verschwunden, und lange Schatten fielen über den breiten Boulevard. Alberto bewegte sich wie ein Panzer durch die Gruppen von nachmittäglichen Kauflustigen, die sich so ziellos treiben ließen wie die vom Wind bewegten welken Blätter der Linden, die den Straßenrand säumten.

AllʼOmbra delle Spade. Dort hatte er sein ganzes Leben verbracht, aber was wussten sie schon von diesen Dingen, diese infantilen Erwachsenen in ihren Steppjacken aus Acryl und den zweifarbigen Designer-Turnschuhen? Er bemühte sich, sie nicht zu verachten, obwohl er wusste, dass sie ihn verachten würden. Man musste eher Mitleid mit ihnen haben. Ja, kauft euch doch die modischsten Klamotten, das neueste Handy, das PS-stärkste Motorrad, den edelsten Modehund. Kauft euch das alles, wenn ihr könnt! Es macht euch nicht glücklich, wird euch aber vielleicht irgendwann das bringen, was ihr am wenigsten wollt, aber am meisten braucht, nämlich die Erkenntnis, dass Glück eine Illusion ist.

Beinah eine halbe Million Italiener waren während des Großen Krieges in jene paradiesischen Schatten eingegangen, dazu eine weitere Million lebenslang zum Krüppel gemacht worden, doch das Land hatte sich rasch erholt. Nun allerdings waren die Italiener dabei auszusterben. Die Geburtenrate war eine der niedrigsten auf der ganzen Welt, und es war vorherzusehen, dass die Bevölkerung innerhalb der nächsten fünfzig Jahre um ein Drittel abnehmen würde. Das bedeutete das Ende der Großfamilie, die die Nation jahrhundertelang zusammengehalten hatte. Und wenn man sich die verhätschelten Bälger ansah, die das Resultat dieses genetischen Experiments in Selbstbeschränkung waren, konnte man nur schwer argumentieren, dass dies ein Fall von ›pochi ma buoni‹ sei. Es war, als hätten die Italiener kollektiv den Willen zum Leben verloren. Dass die Bevölkerungsziffer bisher halbwegs stabil geblieben war, war nur dem ständigen Zustrom von illegalen Einwanderern zu verdanken, die natürlich warfen wie die Kaninchen. Italien hatte während seiner langen und wechselhaften Geschichte unzählige Invasionen erdulden müssen, doch nie war das bloße Überleben der Nation von der Fruchtbarkeit der Eindringlinge abhängig gewesen. Das war die endgültige Invasion, die endgültige Niederlage.

Doch all das war noch Jahrzehnte entfernt, lag noch in ferner Zukunft, wenn er längst tot und begraben sein würde. Derweil war er mit sich selbst im Reinen. Er hatte seine Pflicht getan, und mehr konnte man von niemandem erwarten. Es waren ihm sogar noch ein paar Vergnügen im Leben geblieben, wie zum Beispiel ein gutes Mittagessen. Alberto fuhr sich mit der Zunge über seine kräftigen Backenzähne und versuchte, eine Faser Schweinefleisch zu entfernen, die in einem Zwischenraum stecken geblieben war. Man aß sehr gut bei Da Dante. Solides, reichhaltiges römisches Essen in einem soliden, teuren römischen Lokal auf der Via dei Gracchi im Herzen des soliden, reichen römischen Stadtviertels Prati.

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