Im Rotlicht by Ariane Barth

Im Rotlicht by Ariane Barth

Autor:Ariane Barth [Barth, Ariane]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Bd. 23565
ISBN: 9783843702485
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Gewaltklima

Meine Mutter ist zur Alkoholikerin geworden. Sie hat so viel getrunken, weil das tolle Weichei von Arzt Frau Hentschel alleine ins Vertrauen gezogen hat: »Ihr Mann hat Leukämie und nur noch maximal zwei Jahre zu leben.« Meine Mutter war der Sache überhaupt nicht gewachsen. Sie hat gesoffen wie ’ne Badewanne, zwei Flaschen Korn, jeden Tag. Sie hat ’nen Mastino-Schädel gekriegt, so aufgedunsen ist sie gewesen. Mein Vater hat nicht mehr zwei Jahre gelebt. Ich hab den Film, wie sie sich im Esszimmer gefilmt haben, das Stativ hat damals noch ’nen halben Zentner gewogen. Mein Vater war ja immer der Erste, der alles Neue haben musste, das gerade auf dem Markt war. Die haben sich beim Essen von Rinderrouladen gefilmt. Da hat er nur noch sechs Monate auf dem Zettel gehabt. Die sind dann ganz schnell vergangen.

Er lag im Krankenhaus, und es wurde immer enger im Prinzip, sodass meine Mutter mich telefonisch wieder angekratzt hat: »Du, Vater geht’s dreckig.« Ich hab gesagt: »Gut, dann setz ich mich ins Auto und düse da hin.« Ich hab meinen Bruder abgeholt, und wir sind hingefahren. Wenn mein Vater sich durchs Haar gegriffen hat, sind ganze Büschel ausgefallen. Wenn ich aus dem Krankenhaus mal zwei Stunden weggefahren bin, zum Essen, und dann zurückgekommen bin, ist er schon wieder vier Jahre älter gewesen.

Ich hab immer am Fußende von seinem Bett gestanden, mein Bruder hat neben ihm gesessen. Auf einmal fängt er an zu reden. Ich konnte nie mit ihm reden wie mit meiner Großmutter. Er kann auch jetzt nicht richtig reden. Er liegt ja unter schwerem Morphium. Es blubbert raus aus seinem quittegelben Höhlenmund.

»Was hab ich dir angetan?« Das ist sein Satz für mich, den schreit er raus, mit Aufbäumen. Das ist zu viel für mich. Ich fang das Zittern an und muss mich an seinem Bettgestell festhalten. Ich kann nur sagen: »Mensch, hör auf, so ’nen Scheiß zu labern.« Ich hab doch nie gedacht, dass es mich so wegbeutelt, wenn mein Vater den Arsch zukneift. Das sind Ereignisse, auf die einen das Leben nicht vorbereitet. »Du hast mir gar nichts angetan!« Ich bin völlig fertig, in einem Zustand der Auflösung. Meine Mutter kann es wieder mal nicht ertragen. Sie geht raus. Mein Bruder auf seinem Bett, ich an seinem Fußende, wir sind allein mit unserm Vater. In dem Moment geht die Tür auf – das sind natürlich Bruchteile von Sekunden, die vergisst man nicht, Prinzessin –, da geht die Tür auf, und der Arzt kommt mit seinem Hörstecker rein, der Oberscheißer, und piept meinem Vater an der Brust rum. Ich steh am Bett und werde fast irre, der Arzt soll sich verpissen mit seinem Hörgerät. Ich will nicht, dass er meinem Vater die Augen zudrückt. Ich verstärke meinen Wunsch. Er geht. Mein Wunsch erfüllt sich, mein Vater lebt noch. Ich halte mich an seinem Bett fest, er atmet noch mal durch, sein letztes Röcheln. Und ich darf ihm die Augen zudrücken. Es ist meine erste Begegnung mit dem Tod.

Dann kommt der wieder mit seiner Stethoskopabteilung und mit seinem heftigen Beileid.



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