Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war (German Edition) by Giese Linus

Ich bin Linus: Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war (German Edition) by Giese Linus

Autor:Giese, Linus [Giese, Linus]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2020-08-18T00:00:00+00:00


Digitale Gewalt

Als ich eines Tages Ende Dezember meinen Twitter-Account öffnete, sah ich in meinen Benachrichtigungen plötzlich einen Tweet von jemandem, der sich «Das S.» nannte: «Hallo Mara meine Beste. Ich hab da mal ne frage. Als Frau hattest du sicher mal Oralsex. Betreibst du das weiterhin?» Wenige Minuten später erhielt ich eine private Nachricht von einem weiteren Twitter-Nutzer, der mich fragte, ob ich Interesse an einem «prächtigen Burschen» und seiner «Wünschelrute» hätte. Zusammen mit der Nachricht bekam ich ein eindeutiges Foto geschickt.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Erfahrung mit so etwas, das heißt, ich öffnete jede Nachricht und las mir alle Kommentare durch, weil ich damals noch glaubte, das tun zu müssen. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, wie ich mit Hasskommentaren umgehen kann, darf und muss. Ich bewegte mich, als mir das passierte, fast täglich im Internet. Seit 2011 betrieb ich einen Bücherblog und war auf beinahe allen sozialen Medien aktiv. Doch mit Hass war ich in all der Zeit noch nie konfrontiert worden. Sieben Jahre lang dachte ich nicht eine Sekunde lang darüber nach, ob ich meine Anschrift in meinem Impressum besser nicht veröffentlichen sollte. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass Menschen Gründe dafür haben könnten, ihre Adresse schützen zu müssen. Oder auch sich selbst schützen zu müssen.

Ein halbes Jahr bevor das passierte, hatte ich bei einer Digitalkonferenz im Publikum gesessen – auf der Bühne lasen drei Menschen Hasskommentare vor. Es war eine kleine Auswahl aus den Kommentaren, die sie tagtäglich erhielten. Da saßen Tarik Tesfu (der schwul und Schwarz ist), Juna Grossmann (die im Internet über ihr Leben als Jüdin schreibt) und Lydia Meyer (die eine feministische Sendung auf YouTube produziert). Ich erinnere mich noch daran, wie fassungslos mich die menschenverachtenden und hasserfüllten Kommentare machten, die dort vorgelesen wurden. Und wie sicher ich mir war, dass dieser Hass mich selbst niemals treffen würde.

Ich irrte mich gewaltig – und komme mir im Rückblick unglaublich naiv vor. Als der Hass mich zum ersten Mal traf, empfand ich eine überwältigende Scham, weil wildfremde Männer mir sexuell konnotierte Tweets und Nachrichten schickten – und noch viel schlimmer: weil alle anderen diese Tweets auch lesen konnten. Ich glaubte, etwas falsch gemacht zu haben – ich hatte Angst, dass ich das, was mir gerade passierte, provoziert haben könnte. Trotz der Scham entschied ich mich dazu, einen Screenshot des Tweets von «Das S.» zu posten und meine Follower*innen dazu aufzurufen, den Nutzer zu melden und zu blockieren. Meine Hoffnung war, dass die Tweets wieder verschwanden und damit auch das Gefühl der Scham.

Doch danach ging es erst richtig los. In den folgenden Stunden bezeichneten mich Nutzer*innen als «Scheidenbub», nannten mich «Fotzenbengelchen» und beschimpften mich als «gottlose Hure». Ich saß auf meinem Bett, während ich all diese Nachrichten las, und konnte meine Tränen irgendwann nicht mehr zurückhalten. Wirklich bedroht fühlte ich mich, als «Das S.» damit begann, Fotos von mir zu twittern, angereichert mit eindeutigen Drohungen. Ein paar Minuten später entdeckte ich, dass derselbe Nutzer auf seinem Account auch die Anschrift meines Arbeitgebers veröffentlicht hatte – und seine Follower*innen dazu aufrief, dort anzurufen und nach meinem alten Namen zu fragen.



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