Friedhofskind (German Edition) by Michaelis Antonia

Friedhofskind (German Edition) by Michaelis Antonia

Autor:Michaelis, Antonia [Michaelis, Antonia]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863584191
Herausgeber: Emons
veröffentlicht: 2014-01-28T23:00:00+00:00


12

Der Golf sprang nicht an. Siri stieg aus und streichelte die Motorhaube. Redete ihm gut zu. Es half nichts. Vielleicht fühlte er sich vernachlässigt, sie hatte lange nicht mehr mit ihm gesprochen.

Sie stieg wieder ein, legte die Stirn auf das uralte schwarze Lenkrad und schloss die Augen.

Sie würde Werter holen müssen, damit er den Wagen in Gang bekam, Werter oder Kaminski, je nachdem, wer in der Werkstatt war. Sie sah auf die Uhr und schimpfte sich eine Idiotin. Es war gar niemand in der Werkstatt. Es war fünf Uhr früh.

Die Sonne war lange aufgegangen, die Vögel konzertierten hoch in den Friedhofsbäumen. Aber die misstrauischen Duckhäuser schliefen noch.

Siri hatte sich aus der Datsche davongeschlichen, ohne Lenz zu wecken. Sie sah ihn noch vor sich, ein schlafender Riese, in der Ellenbeuge des ausgestreckten Arms ein Kaninchen, das irgendwann in der Nacht zwischen sie gekrochen war. Bekanntlich schliefen Kaninchen ja nur mit einem Auge. Mit dem anderen hatte es Siri angesehen.

Geh nur, hatte das andere Auge gesagt. Du gehst, und ich bleibe. Denkst du denn, der schlafende Riese gehört dir? Er gehört uns, den Kaninchen. Und Frau Ammerland und Winfried und vielleicht dem ganzen Dorf, auch und vor allem Kaminski. Weil sie ihn brauchen. Sie brauchen ihn alle auf ihre Weise und als genau das, was er ist.

Du – du versuchst, ihn zu ändern. Fahr in deine Stadt und lass uns in Ruhe.

Ich entwickle einen absurden Verfolgungswahn, dachte Siri, ich fühle mich zur Rechenschaft gezogen von … Kaninchen.

Sie hieb mit der Faust auf das Lenkrad. Sie konnte nicht warten, bis Werter die Werkstatt aufmachte. Sie musste weg. Jetzt. Sie ließ den Motor noch einmal aufheulen – nichts.

»Wenn du wartest, fährst du nicht mehr«, flüsterte sie sich selbst zu. »Du rennst zurück wie ein dummes Schulmädchen und kletterst wieder über das Tor der alten Datsche und schlüpfst zurück unter die Decken und erzählst ihm alles. Alles, was du niemals erzählen darfst.«

In diesem Moment klopfte jemand an die Scheibe, und sie erschrak so sehr, dass sie einen Satz in die Luft machte, von ihrem Autositz aus.

Es war Frau Ammerland. Sie trug einen leichten gelbgoldenen Sommermantel und eines ihrer glänzenden seidenen Halstücher, und in der Morgensonne wirkte sie mit ihrem weißen Haar wie eine Erscheinung des Lichts, geisterhafter als Iris es je gewesen war.

Siri öffnete die Wagentür. »Haben Sie ein Auto?«, fragte sie.

»Ich habe«, sagte Frau Ammerland. Sie lächelte. »Ich benutze es selten, aber ich habe eins. Und ich habe Kabel, um Ihnen Starthilfe zu geben. Das ist es, was Sie brauchen, oder?«

Siri nickte.

Eine Viertelstunde später lief der Motor des alten Golf 1, und Siri bedankte sich durchs heruntergekurbelte Fenster.

»Sie fahren also«, sagte Frau Ammerland.

»Ich komme wieder.«

Frau Ammerland steckte das Seidentuch um ihren Hals zurecht, fröstelnd im frühen Wind.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie bitten soll, das zu tun oder es zu lassen«, sagte sie. »Als Iris im Auto ihrer Eltern wegfuhr und nachts wiederkam, ist sie nicht lange geblieben.« Sie schüttelte den Kopf. »Oder – wenn man es anders sieht – für immer. Die, die bis jetzt wiedergekommen sind, liegen alle bei der Kirche unter den Bäumen.



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