Engelsfall: Kommissar David Andel ermittelt - Roman (German Edition) by Reich Helena

Autor:Reich, Helena [Reich, Helena]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Random House DE
veröffentlicht: 2012-05-30T22:00:00+00:00

22

Mit der Willenskraft des Professors scheint es nicht weit her zu sein, dachte Andĕl. War der Professor nur gierig und willensschwach oder doch angespannt und nervös? Seine gelassenen Antworten und weitschweifigen Erklärungen ließen eher Ersteres vermuten, aber ganz sicher war sich der Kommissar nicht. Der Professor lehnte scheinbar entspannt in seinem Stuhl, verfolgte aber – trotz der zur Schau gestellten Gelassenheit – mit unruhigen Augen seine Rauchkringel auf ihrem Weg zur Decke. Ein widersprüchlicher Geselle, fand Andĕl.

»Nun?«, hakte er nach einem Moment des Schweigens nach.

»Ich habe Sie nicht angelogen, wenn Sie das meinen. Dieses Blatt ist ein fantastischer Fund. Ein Jahrhundertfund, möchte ich fast sagen...««

»Das sagten Sie bereits. Warum?«

»Ganz einfach: Das Voynich-Manuskript in der Beinecke Library ist nicht vollständig. Es fehlen acht Blätter.«

»Wie das?«, fragte Andĕl. Es gab keinen Grund, dem Professor zu verraten, dass ihm dieses Detail bereits bekannt war.

»Nun, das Manuskript ist im Laufe der Jahrhunderte durch viele Hände gegangen«, sagte der Professor achselzuckend, »die Seiten sind irgendwann offenbar verloren gegangen. Möglicherweise hat sie auch jemand absichtlich herausgenommen.«

»Warum?«, schaltete sich Nebeský wieder ein, froh, den Treibsand der Philosophien und Mythen verlassen zu können. »Meinen Sie als Souvenir, oder so?«

»Möglich. Aber es gibt auch die These, dass die acht Blätter einerseits den letzten Schritt zur Erlangung des Steins der Weisen enthalten – was auch immer man darunter letztendlich verstehen mag – und andererseits den Code zur Entschlüsselung des ganzen Manuskripts.«

»Wir haben Hinweise, dass verschiedene Leute hinter diesen verschollenen Blättern her sind.«

»Das glaube ich gerne. Viele Leute hätten diese Blätter gerne – aus den verschiedensten Gründen. Manche, weil sie tatsächlich glauben, das sie damit den Stein der Weisen finden, manche wegen des vermuteten Wertes...««

»Und warum wollen Sie sie haben?«, unterbrach ihn Andĕl.

Leonhart starrte ihn einen Moment lang verblüfft an, dann lachte er. »Wie kommen Sie denn darauf? Ich bin lediglich ein Historiker mit einem Faible für die Alchemie. Das Voynich-Manuskript ist interessant, und Ihr Fund wird sicherlich in der Community Furore machen, möglicherweise auch außerhalb. Aber es gibt Leute, die weitaus mehr Interesse an diesen Seiten haben als ich. Damit will ich nicht sagen, dass ich die verschollenen Blätter wegwerfen würde, wenn ich sie finden sollte... Aber für mich ist das Voynich-Manuskript lediglich aus historischer Sicht von Belang.«

»Sie teilen also nicht die Auffassung, dass es sich um ein alchemistisches Manuskript handelt?«

»Nun, das schon, aber ehrlicherweise neige ich zu der Auffassung, dass es sich vor allem um einen Scherz handelt. Ich stimme da durchaus mit Gordon Rugg überein, der es für das raffinierte Werk eines Schelms hält und den Inhalt für bedeutungslosen Unsinn. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es entschlüsselt werden kann. Ich denke, jemand hat sich damit über die damalige Gier nach Gold lustig gemacht. Eine falsche Fährte gelegt, wenn Sie so wollen. Aber natürlich kann ich mich täuschen...««

Wenn das Manuskript ein Scherz war, dachte Andĕl, dann hatte dieser Scherz jetzt ziemlich tödliche Auswirkungen. Acht verschollene Blätter und zwei Tote. Sie hatten bisher ein Blatt gefunden, der Mörder möglicherweise weitere. Blieben noch einige übrig, die wahrscheinlich im Besitz von weiteren Menschen waren, von denen sie nichts wussten.

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