Ein wenig Leben: Roman by Hanya Yanagihara

Ein wenig Leben: Roman by Hanya Yanagihara

Autor:Hanya Yanagihara [Yanagihara, Hanya]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fiction, General
ISBN: 9783446254718
Google: 7FA4DQAAQBAJ
Herausgeber: Hanser Berlin
veröffentlicht: 2017-01-28T05:00:00+00:00


3

Jeden Nachmittag um sechzehn Uhr, nach der letzten Unterrichtsstunde und vor der Hausarbeit, hatte er eine Stunde Freizeit, aber mittwochs bekam er zwei Stunden frei. Früher hatte er diese Nachmittage damit zugebracht, zu lesen oder das Gelände zu erkunden, doch in letzter Zeit, seit Bruder Luke es ihm gestattete, verbrachte er sie alle im Gewächshaus. Wenn Luke da war, half er dem Bruder, die Pflanzen zu gießen, wobei er sich ihre Namen einprägte – Miltonia spectabilis, Alocasia amazonica, Asystasia gangetica –, um sie im Gespräch mit dem Bruder zu erwähnen und dafür Anerkennung zu ernten. »Ich glaube, die Heloconia vellerigera ist gewachsen«, sagte er dann und fuhr mit der Hand über ihre pelzigen Deckblätter, und Bruder Luke sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Unglaublich«, sagte er. »Meine Güte, was hast du für ein Gedächtnis«, und Jude lächelte still in sich hinein, stolz darauf, den Bruder beeindruckt zu haben.

War Bruder Luke nicht da, vertrieb er sich die Zeit stattdessen, indem er mit seinen Sachen spielte. Der Bruder hatte ihm gezeigt, dass man einen Stapel Übertöpfe aus Plastik auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes beiseiteschieben konnte, um ein kleines Gitter freizulegen, und unter dem Gitter befand sich ein Loch, das gerade groß genug war, um einen Müllsack mit seinen Habseligkeiten zu beherbergen. Also hatte er seine Zweige und Steine unter dem Baum hervorgeholt und seine Beute in das Gewächshaus gebracht, wo es warm und feucht war und er seine Gegenstände untersuchen konnte, ohne dass seine Finger taub wurden. Im Laufe der Monate hatte Luke zu seiner Sammlung beigetragen: Er hatte ihm ein Stück Glas gegeben, das vom Meer rundgeschliffen worden war und von dem er sagte, es habe die Farbe seiner Augen, eine Pfeife aus Metall mit einer runden kleinen Kugel darin, die wie ein Glöckchen klingelte, wenn man sie schüttelte, und eine kleine Stoffpuppe – ein Mann, der eine burgunderrote Wolljacke und einen mit winzigen türkisen Perlen verzierten Gürtel trug –, die, wie der Bruder sagte, von einem Navajo-Indianer angefertigt worden sei und ihm seit seiner Kindheit gehört habe. Zwei Monate zuvor hatte er beim Öffnen seiner Tasche gesehen, dass Luke ihm darin eine rot-weiße Zuckerstange hinterlassen hatte, wie man sie zu Nikolaus oder zu Weihnachten bekam, und auch wenn bereits Februar war, hatte er sich über alle Maßen darüber gefreut: Er hatte schon immer einmal eine Zuckerstange probieren wollen, und er brach sie in kleine Stücke, die er lutschte, bis sie einer Speerspitze glichen, bevor er daraufbiss und der Zucker zwischen seinen Backenzähnen knirschte.

Der Bruder hatte ihm gesagt, er müsse am nächsten Tag gleich nach Unterrichtsende zu ihm kommen, denn er habe eine Überraschung für ihn. Er war den ganzen Tag über zappelig und unaufmerksam gewesen, und obwohl zwei der Brüder ihn geschlagen hatten – Michael ins Gesicht, Peter aufs Gesäß –, hatte er kaum Notiz davon genommen. Erst auf Bruder Davids Warnung hin, wenn er sich nicht endlich konzentriere, werde er anstelle seiner freien Stunden zusätzliche Aufgaben erledigen müssen, riss er sich zusammen und schaffte es irgendwie, den Tag zu überstehen.



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