Ein ganzes Leben by Robert Seethaler

Ein ganzes Leben by Robert Seethaler

Autor:Robert Seethaler
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2014-08-02T22:00:00+00:00


Er faltete den Brief so klein wie möglich zusammen und begrub ihn in der Erde zu seinen Füßen. Dann nahm er seine Decke und ging in die Baracke zurück.

Es dauerte fast sechs weitere Jahre, bis Eggers Zeit in Russland zu Ende ging. Nichts hatte die Befreiung angekündigt, doch an einem frühen Morgen im Sommer neunzehnhunderteinundfünfzig wurden die Gefangenen auf dem Barackenvorplatz zusammengetrieben, wo sie sich nackt ausziehen und ihre Kleider zu einem großen, stinkenden Haufen übereinanderwerfen mussten. Der Haufen wurde mit Benzin übergossen und angezündet, und während die Männer in die Flammen starrten, stand in ihren Gesichtern die Angst vor sofortiger Erschießung oder noch schlimmerem. Aber die Russen lachten und redeten laut durcheinander, und als einer von ihnen einen Gefangenen an den Schultern packte, ihn an sich drückte und mit diesem nackten, dürren Gespenst einen lächerlichen Paartanz ums Feuer vollführte, dämmerte es den meisten, dass dieser Morgen ein guter Morgen war.

Ausgestattet mit frischen Kleidungsstücken und je einem Kanten Brot, verließen die Männer noch in derselben Stunde das Lager, um sich auf den Marsch zur nächstgelegenen Bahnstation zu machen. Egger hatte sich in eine der hinteren Reihen verzogen. Direkt vor ihm ging ein junger Mann mit großen, stets etwas verschreckt blickenden Augen, der schon auf den ersten Metern mit gierigen Bissen sein Brot verschlang. Als er den letzten Brocken hinuntergeschluckt hatte, drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf das Lager, das schon kilometerweit hinter ihnen lag und im Sonnenflimmern kaum noch zu erkennen war. Er grinste und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dabei kam aber nur ein würgender Laut heraus, und dann begann er zu weinen. Er heulte und schluchzte und die Tränen und der Rotz liefen ihm in breiten Schlieren über die schmutzigen Wangen. Einer der älteren Männer, ein großgewachsener Weißschopf mit verkrätztem Gesicht, trat an den Jungen heran, legte ihm den Arm um die bebenden Schultern und sagte, er solle doch gefälligst mit dieser Heulerei aufhören, denn erstens bringe sie einem persönlich nicht mehr als einen durchweichten Hemdkragen und zweitens sei das Geplärre ansteckend wie das Rossfieber und die Beulenpest zusammen und er habe keine Lust, den Heimweg von ein paar tausend Kilometern inmitten greinender Waschweiber hinter sich zu bringen. Obendrein sei es gescheiter, sich die Tränen für zu Hause aufzusparen, denn dort gäbe es noch Grund genug zum Heulen. Der junge Mann hörte auf zu weinen und Egger, der zwei Schritte hinter ihm ging, vernahm noch lange die trockenen Geräusche, mit denen er seine Tränen und die allerletzten Brotkrümel hinunterschluckte.



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