Ein Freund by Arjouni Jakob

Ein Freund by Arjouni Jakob

Autor:Arjouni, Jakob [Arjouni, Jakob]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60368-2
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-11T05:00:00+00:00


[111] Familie Rudolf tut wohl

»Herr Rudolf…! Warten Sie.« Die alte Hauswartsfrau richtete sich auf, ließ den Lappen in den Eimer fallen und hinkte zur Treppe. Herr Rudolf blieb stehen und zog die Pudelmütze ab. Von seinen Schuhen schmolz Schnee. Als sozial denkender Mensch mit einem diffusen Verhältnis zu Berufsputzerinnen war ihm die Pfütze, die sich um seine Schuhe bildete, äußerst unangenehm.

»Guten Tag, Frau Simmes.« Herr Rudolf versuchte zu lächeln.

»Tag.« Die Hauswartsfrau trocknete sich die Hände an der Schürze ab, während sie den kleinen schmächtigen Mathematiklehrer ungeniert musterte. Sie mochte ihn nicht. Schon bei seinem Einzug war ihr die vorwurfsvolle Art aufgestoßen, mit der er bemängelt hatte, daß es keinen hauseigenen Glascontainer gab, und jeden Morgen ragte aus seinem Briefkasten eine der Tageszeitungen, von denen ihr Mann behauptete, sie seien ›liberale Blindmacher‹.

»Was gibt’s, Frau Simmes?«

Die Alte strich die Schürze glatt, verschränkte die Arme und fragte triumphierend: »Sie wissen doch wohl, daß Untermieter in diesem Haus verboten sind?«

Herr Rudolf spürte einen Stich im Magen. »Ja, natürlich…« Und mit gespielter Verwunderung: »Warum?«

[112] »Weil seit Monaten ein Herr bei Ihnen ein und aus geht.«

»Ach, Sie meinen…«

»…ich meine den Herrn im blauen Mantel.«

»Aber liebe Frau Simmes…« Herr Rudolf tat, als müsse er sich zurückhalten, um nicht zu lachen. »…das ist mein Onkel. Er ist nur zu Besuch.«

»So, so, Ihr Onkel. Und warum spricht Ihr Onkel kein Deutsch?«

»Er ist Rußlanddeutscher.«

Die Alte schien mit der Antwort nicht viel anfangen zu können, und Herr Rudolf beeilte sich zu erklären: »Sie wissen doch, die Deutschen, die von Stalin nach Sibirien verschleppt wurden oder, noch schlimmer, ins Konzentrationslager. Er hat seine Eltern schon mit fünfzehn verloren und die Sprache völlig verlernt.«

Die Hauswartsfrau schaute nach wie vor skeptisch. »Sogar ›guten Tag‹ verlernt?«

Herr Rudolf lächelte betrübt. »Nein, das ist die Angst. Wenn man sich fast fünfzig Jahre lang mit jedem deutschen Wort in Gefahr begab, eingesperrt zu werden… Naja, das legt man nicht von heute auf morgen ab.«

Es roch nach Essen, und aus der Küche drang Geklapper. Herr Rudolf hängte seinen Mantel an die Garderobe und blieb vorm Spiegel stehen, um seine wenigen, dafür um so längeren Haare in Form zu streichen. Er wußte, daß man sich am Gymnasium über seine Frisur lustig machte, aber er scherte sich nicht mehr darum. Er hatte sich damit abgefunden, daß seine Qualitäten auf geistiger Ebene lagen, und pflegte das verschrobene Äußere eines Künstlers. Manchmal [113] schrieb er Artikel für Mathematik-Fachzeitschriften, doch seine Liebe gehörte der Lyrik. Er dichtete heimlich; ernste Zeilen über das Leben und den Menschen an sich, aber auch humorvolle Wortspiele über Politik und Alltag. Irgendwann wollte er damit an die Öffentlichkeit treten, und oft malte er sich aus, wie die Literaturkritik ihn feiern würde.

Als Herr Rudolf in die Küche trat, war seine Frau dabei, eine Kalbslende in dünne Scheiben zu schneiden. Sie begrüßte ihn mit kraftlosem »Hallo«.

»Hallo.«

Auf dem Eßtisch standen chinesische Porzellanschalen mit verschiedenen Soßen, ein Spiritusbrenner und drei Fonduegedecke. Das Radio lief. Ein Pfarrer pries die deutsche Novemberrevolution 1989. Herr Rudolf schob die Hände in die Hosentaschen und schaute seiner Frau zu, wie sie das Fleisch auf einen Teller gab.



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