Die Welt in allen Farben by Joe Heap

Die Welt in allen Farben by Joe Heap

Autor:Joe Heap
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783959678865
Herausgeber: HarperCollins


Achtzehn

September

Sechs Monate nachdem sie Kates Wohnung verlassen hat, fasst Nova in ihre Manteltasche, greift den Gegenstand darin und lässt das Gewicht durch ihre Finger rollen. Die Septemberluft ist feuchtwarm und dunstig, und sie genießt das Gewicht des Gegenstandes, seine Festigkeit und Kühle.

In der Nacht nach dem Kuss hatte sie von Kates Gesicht geträumt. In ihrem Traum hatte sie es voll und ganz verstanden, und sie konnte Kates Frage beantworten. Sie wusste genau, zu was für einer Art Mensch dieses Gesicht gehörte, und sie wollte es ihr sagen, aber ihr kamen nicht die richtigen Worte über die Lippen. Die Berührung und das Bild wurden eins – es war das erste Mal, dass Nova als sehender Mensch etwas wirklich verstand.

»Du bist hübsch«, erklärte sie ihr in ihrem Traum. »Du bist schön.«

Diesmal wachte sie nicht auf, um im Dunkeln zu weinen. Sie schlief durch bis zum Morgen, und als sie aufwachte, konnte sie sich nicht an ihren Traum erinnern.

Als sie am Morgen im Dunkeln dalag, hatte Nova das Gefühl, als wäre eine Entscheidung für sie getroffen worden. Mit Kate wäre sie drangeblieben. Ohne Kate hat es keinen Sinn, es noch weiter zu versuchen. Sie würde aufgeben, und zwar ab heute.

Sie würde wieder blind werden.

Tränen kullerten auf Novas Kissen, als würden ihre außergewöhnlichen Augen die Entscheidung verstehen, die sie gerade getroffen hatte, und jetzt schon trauern. Ab sofort würden sie hinter dunkle Gläser gesperrt werden, sie würde ihnen Licht, Formen und Farben verweigern – diese köstlichen Süßigkeiten, von denen einem so übel werden konnte –, bis ihr Appetit auf den Nullpunkt gesunken war.

Doch die Blindheit kam ihr in diesem Moment unwichtig vor. Kate war weg und würde nie wiederkommen. Nova lebte bereits in diesem Randbereich voll Dunkelheit, jenseits von Licht und Wärme. Jetzt musste sie sich nur noch daran gewöhnen.

Als sie sich später zum Ausgehen fertig machte, mit dunkler Brille und weißem Stock unter dem Arm, schloss sich ihre Hand um etwas in der Tasche ihrer Lederjacke. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, was das für ein Gegenstand war. Es war klein und fest. Sie drehte es hin und her, fühlte die Rillen, den kleinen Ring an einem Ende. Es war ein Taschenmesser. Irgendwie wusste sie, dass es Kate gehörte. Bevor alles aus dem Ruder gelaufen war, musste sie ihr das in die Tasche geschmuggelt haben, als Überraschung für später. Nova überlegt, was es für eine Bedeutung haben könnte, aber sie kann sich nicht erinnern, dass sie jemals über Taschenmesser gesprochen hätten. Sie nimmt an, dass Kate es ihr noch erklärt hätte, wenn dieser Kuss nicht dazwischengekommen wäre.

*

Es ist Monate her, dass Kate zum letzten Mal die Pille genommen hat. Aber es ist egal – sie haben sowieso keinen Sex. Tony kommt immer später nach Hause, als seine jeweilige Schicht dauert. Die letzten paar Wochenenden war er weg, beim Klettern mit Freunden. Sie rechnet damit, dass sie demnächst ihre Tage bekommt. Sie liegt mit Tony im Bett, und das Licht ist aus, und seit fünf Minuten versuchen sie einzuschlafen.

Da spürt sie seine Hand an ihrer Hüfte.



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