Die Wahrsagekunst im Alten Orient - Zeichen des Himmels und der Erde by Stefan M Maul

Die Wahrsagekunst im Alten Orient - Zeichen des Himmels und der Erde by Stefan M Maul

Autor:Stefan M Maul
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C H Beck Verlag


Zeugnisse der Opferschau-Praxis:

Opferschauprotokolle und Musteranfragen

Die divinatorische Beratung der Opferschauer fand für lange Zeit nur dann Niederschlag in schriftlichen Hinterlassenschaften, wenn die «Seher» im Auftrag eines Königs tätig waren. Erst aus der späten altbabylonischen Zeit kennen wir Tontafeln mit Protokollen von Opferschauen, die Privatleute hatten durchführen lassen.[137]

In diesen meist mit einem Ausstellungsdatum versehenen Dokumenten, die übrigens ausschließlich aus Babylonien selbst stammen, sind die auf Eingeweiden und Leber festgestellten Befunde knapp beschrieben und bisweilen in einem abschließenden Vermerk bewertet. Oft notierten die Opferschauer auch den Namen des Auftraggebers und die Angelegenheit, die dieser durch das Binärorakel geprüft wissen wollte. Der Name der Gottheit, welcher das Tier dargebracht worden war, ist mitunter ebenfalls genannt.[138] In manchen der altbabylonischen Dokumente sind die wesentlichen Befunde von zwei oder drei aufeinanderfolgenden Opferschauen aufgelistet.[139] In den etwas jüngeren, meist in Nippur gefundenen Schriftstücken aus dem 14. Jahrhundert hielten die «Seher» sogar Befunde von bis zu zehn Opferschauen fest, die im Auftrag eines einzigen Kunden nacheinander durchgeführt worden waren[140] – wohl mit dem Ziel, die aus der ersten Opferschau gewonnene «Weisung» durch immer präziseres Fragen zu einer ganz klaren, als Handlungsanweisung nutzbaren Aussage auszuformen.

Das scheinbar unvermittelte und recht späte Auftreten dieser Dokumente in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts v. Chr. sollte man allerdings nicht als Hinweis darauf verstehen, daß das Opferschau-Orakel ursprünglich allein für «offizielle» Angelegenheiten, für private Belange aber erst nach und nach von der spätaltbabylonischen Zeit an genutzt wurde.[141] Schon der Wortlaut des Gelöbnisses, das die Opferschauer im frühen 18. Jahrhundert v. Chr. am Hof von Mari ihrem König abzulegen hatten, widerlegt dies. Denn dort ist ja mehrfach, so wie auch in einigen Briefen aus Mari, von Eingeweideschauen die Rede, durch die auch „einfache Leute“ eine göttliche «Weisung» erlangen konnten.[142] Man muß daher annehmen, daß Opferschauer auch schon in älteren Zeiten Privatleuten regelmäßig ihre Dienste anboten. Nur hielten sie es lange einfach nicht für nötig, das auch schriftlich zu dokumentieren.

Wie es scheint, haben sie dies auch später nur in Ausnahmefällen getan. Denn aus der gesamten altbabylonischen Zeit kennen wir nicht einmal 40 Tafeln mit solchen Opferschauprotokollen,[143] für die folgenden Jahrhunderte sind es sogar noch weniger.[144] Und das erste vorchristliche Jahrtausend hat uns nicht einen einzigen schriftlichen Bericht über eine für Privatleute ausgerichtete Opferschau beschert, obgleich Hunderte entsprechender Dokumente bekannt wurden, die man im siebten Jahrhundert v. Chr. im Auftrag der neuassyrischen Könige archivierte.

Statt unsinnigerweise anzunehmen, daß für den größten Teil der altorientalischen Geschichte Privatleute die Eingeweideschau für ihre Zwecke nicht in Anspruch nahmen, gilt es vielmehr zu fragen, was die «Seher» überhaupt dazu bewog, Berichte über Opferschauen anzufertigen, welche sie für Privatleuten ausgerichtet hatten. Hierüber können wir freilich kaum mehr als Mutmaßungen anstellen.

Leider sind die Fundumstände der meisten Tafeln unbekannt. Daher ist es in der Regel nicht einmal möglich zu entscheiden, ob die Opferschauprotokolle für den «Seher», der sie niedergeschrieben hatte, oder – was sehr viel wahrscheinlicher ist[145] – für die durchweg hochstehenden und einflußreichen Auftraggeber der Opferschau bestimmt waren. Diese hätten mit einem schriftlichen Bericht, in dem die wichtigen Kennzeichen eines für sie bestimmten



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