Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit by Harald Welzer

Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit by Harald Welzer

Autor:Harald Welzer [Welzer, Harald]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104036861
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Kapitel 6

Willkommen im Knetozän

Die Marktmacht konzentriert sich und Arschlöcher werden neuerdings angehimmelt. Sie entwickeln nicht nur totalitäre Strategien, sondern sprechen auch darüber. Es hört aber niemand zu. Deshalb gebrauchen sie die Macht, die ihnen niemand streitig macht. Digital ist übrigens fossil.

»Am Freitag enttäuschte abermals eine Konjunkturkennziffer.«[121]

Was war die Frage, auf die die demokratischen Nachkriegsgesellschaften westlichen Typs eine Antwort sein sollten? Die Frage war, wie ich die Staatsbürgerinnen und -bürger dazu bringe, sich politisch in das Spektrum liberaler Demokraten mit leichten Ausschlägen nach rechts (Konservatismus) oder links (moderat sozialistisch oder sozialdemokratisch) einzuordnen. Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus einerseits und im Angesicht des stalinistischen Ostblocks andererseits erwuchs daraus, wie schon gesagt, das Konzept eines demokratischen Kapitalismus, in dem die Marktkräfte durch eine regulative Wirtschaftspolitik und durch Instrumente wie Mitbestimmung und Tarifpartnerschaft eingehegt wurden. Diese Form einer sozialen Marktwirtschaft war sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftspolitisch außerordentlich erfolgreich und hat genau jene politische Integration hervorgebracht, die speziell im Fall Westdeutschlands nach der Nazizeit fast unerwartbar war: Aus einer Gesellschaft, die dem Autoritarismus des Kaiserreichs und den Unfreiheitsidealen des Faschismus gehuldigt hatte, wurde in nur wenigen Jahrzehnten eine demokratische und freie Gesellschaft.

Dieser Gestaltwandel ist besonders an der dritten Generation, also den Kindern der sogenannten 68er abzulesen, die eine Offenheit gegenüber Differenzen und eine Toleranz gegenüber Ambivalenzen hat, die der Kriegsgeneration ebenso abging wie ihren Kindern, eben den »68ern«. Einer der zentralen integrativen Faktoren war dabei der wachsende Wohlstand und die damit verbundene Teilhabe auch arbeiterlicher Schichten an den Segnungen der Konsumgesellschaft: kleiner Luxus in Form eines Autos, eines Fernsehers, einer Wohnung mit Balkon, einer Urlaubsreise. Das ökonomische Mittel dafür war Wachstum, die jährliche Steigerung des Bruttosozialprodukts und ihre Übersetzung nicht nur in Unternehmens- und Kapitalgewinne, sondern auch in Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, Nachtarbeitszuschläge, Kündigungsschutz, mehr Urlaubstage usw.

Das hätte so weitergehen können, wurde aber durch die Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre jäh unterbrochen. Der »kurze Traum von der immerwährenden Prosperität«, wie Burkart Lutz das genannt hat, wurde durch gesellschaftspolitische Tiefschläge in Form von Massenarbeitslosigkeit, Überlastung der Sozialsysteme, Aufnahme von Staatsschulden abgelöst, genau von dem Szenario also, das Wolfgang Streeck dargelegt hat. Die integrative Funktion des Wirtschaftswachstums wurde nun durch Schuldenwachstum ersetzt, was die Handlungsspielräume der öffentlichen Hand immer mehr beschränkte. Das war nicht nur in Westdeutschland so: Alle westlichen Gesellschaften, in besonderer Weise die britische, durchliefen diese Phase des Aufwachens aus den Wirtschaftswunderträumen, und dann begann jene volkswirtschaftliche Katastrophe, die längst noch nicht zu Ende ist: die Ära des Neoliberalismus, die – exemplarisch verkörpert durch Margaret Thatcher in England und Ronald Reagan in den USA – eine Kaskade aus Kürzungen von Sozialleistungen, Privatisierungen öffentlicher Unternehmen, Lohnsenkungen, Steuererleichterungen für Konzerne, Deregulierung des Finanzmarktes einleitete.

Das gute Zauberwort des Neoliberalismus ist »Markt«, das böse »Staat«, und überall dort, wo es durch Regierungswechsel oder Systemzusammenbrüche ging, wurde dereguliert, was das Zeug hielt. Naomi Klein hat das in ihrem Buch »Die Schockstrategie«[122] eindrucksvoll beschrieben und Philipp Ther anhand der Transformation Osteuropas nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems akribisch historisch rekonstruiert.[123] Und die Finanz- und Eurokrise haben das letzte Jahrzehnt hindurch live vor aller Augen vorgeführt,



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