Die Schwestern vom Ku'damm by Brigitte Riebe
Autor:Brigitte Riebe [Riebe, Brigitte]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644200487
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
7
Berlin, Winter 1946/1947
Der weiße Tod regierte in der Stadt – so nannten die Berliner das Erfrieren in diesem unbarmherzigen Winter, der noch um einiges härter ausfiel als sein bitterkalter Vorgänger. Hunderte von Menschen traf dieses Schicksal in ihren ungeheizten Wohnungen, wo dicke Eisblumen an den Fenstern wucherten und gespenstisch lange Eiszapfen von den Dachrinnen hingen. Längst hatten sogar die Bäume des einst dichtbestandenen Tiergartens daran glauben müssen; jedes Fitzelchen Holz war weggetragen worden. Betriebe, Fabriken und öffentliche Einrichtungen wurden, wenn überhaupt, nur mangelhaft mit Kohle beliefert; für den Privatverbrauch war so gut wie kein Brennstoff vorhanden. Gas und Strom gab es höchstens stundenweise; so mussten auch die Thalheims häufig in ihrer Wohnung bibbern. Rike hatte sich angewöhnt, zu Hause stets mehrere Schichten Kleidung übereinanderzutragen. Claire und die beiden Schwestern machten es ihr nach, während Friedrich behauptete, nicht zu frieren, obwohl er ständig hustete. Sogar ins Bett gingen sie alle dick eingemummt, in der Hoffnung, die Nacht halbwegs warm zu überstehen.
Die beißende Kälte lähmte das gesamte Leben. Nur wer unbedingt rausmusste, wagte sich noch auf die spiegelglatten Straßen. Rhein und Elbe froren kilometerlang zu, was die Schifffahrt und damit auch den Gütertransport zu Wasser lahmlegte. Jeder Lebensmitteleinkauf geriet zur Herausforderung. Immer öfter mussten Silvie oder Claire in klirrender Kälte endlos anstehen, während Rike den ganzen Tag im Laden war, um schließlich doch mit leeren Händen nach Hause zu kommen. Nach der Jahreswende wurde auch das Mehl knapp; die großen Felder im Osten, die jetzt zu Polen oder Russland gehörten, fehlten beim Ernteertrag der vergangenen beiden Jahre. Überhaupt lag die gesamte deutsche Landwirtschaft danieder. Es gab zu wenige Bauern, der Tierbestand war geschrumpft, viele Äcker darbten unbearbeitet als Brachland.
Hunger war die Folge, bohrender Hunger, der alle traf. Dicke Menschen waren nahezu vollkommen aus dem Straßenbild verschwunden. In der S-Bahn passten vier Fahrgäste mühelos auf zwei Sitze, so mager waren die Leute geworden.
«Da war es ja im Krieg noch besser», schimpfte Claire, wenn sie als weiblicher Haushaltsvorstand wieder einmal aus den spärlichen Vorräten eine Mahlzeit zubereiten sollte, die für alle reichte. «Auch eine Methode, sich einstiger Nazis zu entledigen – sie simplement auszuhungern.»
Die Kalorienmenge, die seit Jahresbeginn den Deutschen in der britischen Besatzungszone zustand, war inzwischen derart gering, dass niemand davon satt werden konnte, nicht einmal jene, die die höchste Stufe an Lebensmittelmarken zugeteilt bekamen.
Wie also in diesen harten Zeiten einigermaßen über die Runden kommen?
Rike, sonst stets bemüht, für alles eine Lösung zu finden, wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
An den meisten Tagen ließen sich die Kundinnen an einer Hand abzählen, die das Thalheim am Savignyplatz besuchten, an anderen kam gar niemand. Wer hatte schon Interesse an neuen Kleidern, die man sich ohnehin kaum leisten konnte, wenn der Magen ständig knurrte und einem die Gliedmaßen halb abfroren? Wenn Frauen den Laden überhaupt betraten, dann nur, um sich umzusehen. Dabei suchten sie die Nähe der Brennhexe, die Brahm für Rike organisiert hatte: ein Rechteck aus Eisenblech mit Herdplatte, das keinen Kaminanschluss brauchte und sparsamstes Heizen mit verschiedensten Materialien ermöglichte, wenngleich die Ausleitung über einen Mauerspalt wiederum neue Kälte hereintrieb.
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